~Cleo
Ich weiß nicht, ob es eine Rolle spielt, wann ich gehe. Die Frage ist eher, ob du dann noch hier sein wirst.
Je länger ich über Runes Worte nachdachte, desto eher hatte ich das Gefühl zu verstehen, was er mir damit sagte. Die Ratssitzung hatte mir gezeigt, was für ein politisches System ich unterstützte, wenn ich für das Internat arbeitete. Ich ging in den Unterricht, ich trainierte - aber seit dem Tag der Sitzung hatte ich nicht mehr gekämpft und ich hatte auch nicht vor, das in der nächsten Zeit zu tun. Nicht, solange mir niemand einen plausiblen Grund nannte, weshalb der Rat und die Internate auch nur ein kleines Bisschen besser waren, als die Rebellen.
Aber wohin sollte ich schon gehen? Ich konnte mich selbst verteidigen und mittlerweile hielt mich niemand mehr zurück, wenn ich alleine das Internat verlassen wollte. Ich könnte mein altes Leben wieder aufnehmen, zurück an mein altes Internat zu meinem Pferd - Aber das konnte ich nicht. Nicht jetzt, wo ich lange genug unter göttlichen Wesen gelebt hatte, um mich ihnen selbst zugehörig zu fühlen. Nicht jetzt, wo ich wusste, was hinter den Kulissen geschah.
Frustriert stieß ich die Luft aus. Seth hatte nicht recht gehabt, als er gesagt hatte, dass es in diesem Kampf kein schwarz und weiß gab. Die Seiten waren schwarz und weiß. Aber keine davon war vollkommen gut oder böse. Und mittlerweile hatte ich keine Ahnung mehr, welches die Bessere war. Oder ob es die überhaupt gab.
Ich konnte nicht einfach weiter machen, als wäre nichts gewesen. Ich musste mir ein genaueres Bild von alledem machen - vielleicht vor allem, wenn es sich um Leute handelte, zu denen ich keinen persönlichen Bezug hatte. Denn egal, was Seth getan oder nicht getan hatte, er war mir wichtig gewesen. Er hatte selbst auf grausame Art und Weise getötet, war seine Bestrafung also überhaupt so unfair gewesen, wie sie mir vorgekommen war? Oder war das bloß, weil ich ihn gekannt hatte?
Ich ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen und atmete die frische Nachmittagsluft ein. Es gab an diesem Internat einen Ort, den ich zuvor noch nie betreten hatte und ich hatte das Gefühl, dass es an der Zeit war, genau das zu tun. Mir ein Bild von allem zu machen. Ich schlug den Weg zum Gefängnis ein, während mir ein warmer Wind über die Haut fuhr. Ich wusste nicht, was mich darin erwarten würde. Möglicherweise wäre es sogar leer, denn die Ratssitzung war gerade erst gewesen.
Vor dem Gebäude blieb ich kurz stehen und holte tief Luft. Dann drückte ich die Wirbelsäule durch und wollte den Eingang passieren. Doch dazu kam ich nicht. Ein großer, breiter Kerl schob sich vor den Eingang und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein Wachmann. Auf den Gedanken, dass hier nicht einfach jeder nach Herzenslust aus und eingehen konnte, hätte ich früher kommen können. Verdammt.,,Junge Dame, was hast du hier zu suchen?" Seine Stimme klang nicht wirklich drohend, eher gelangweilt.
Angespannt biss ich mir auf die Lippe und vermied es, ihn anzusehen. ,,Ich äh... Ich wollte nur... -"
In diesem Moment warf etwas einen Schatten auf mich, der mich von dem warmen Sonnenlicht abschirmte. Verwundert sah ich auf.
,,Sie ist mit mir hier." Rune stellte sich neben mich und bedachte den Wachposten mit einem kühlen Blick. Dieser wirkte nicht länger gelangweilt. Er spannte die Muskeln an und nickte. ,,Natürlich." Dann trat er zur Seite und gewährte uns den Eintritt.
Noch immer irritiert sah ich zu Rune auf. ,,Woher wusstest du, dass ich hier sein würde?"
Rune warf mir einen kurzen Blick zu, sagte aber nichts. Nun gut.
Die Luft wurde feuchter, kälter und modriger, je näher wir den Zellen kamen. Mir fuhr ein Schauer über den Rücken. Nicht sehr gemütlich hier. Der Geruch nach Schimmel kratzte in meiner Lunge, der Boden unter meinen Stiefeln glänzte feucht. Außer dem schwachen Licht, welches durch den Eingang den Anfang des Gefängnis erhellte, gab es kein Tageslicht. Lediglich ein paar flackernde Lampen warfen ein schwaches Licht in den Raum. Meine Muskeln verkrampften sich, als wir uns der ersten Zelle näherten. Auf den ersten Blick war nichts zusehen, deshalb dachte ich, niemand befände sich darin. Doch als ich vor der Zelle stehen blieb und sich meine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, sah ich eine Frau in der Ecke kauern. Ich zuckte zusammen und zwang mich dazu, den Blick nicht abzuwenden. Sie war dünn, so mager, dass sich ihre Knochen deutlich unter der blassen Haut abzeichneten. Ihre Lippen waren eingerissen und blau von der andauernden Kälte, die Augen blutunterlaufen und glanzlos. Sie sah uns an, schien uns gleichzeitig aber nicht wirklich wahrzunehmen. Mir stellten sich die Nackenhaare und ich wich einen Schritt zurück. Was hatte sie wohl getan, um hier eingesperrt zu sein? Und rechtfertigte es, was sie ihr hier antaten? Ich sah zu Rune, dessen Blick auf mir ruhte. Er sagte noch immer nichts, sah mich einfach nur an. Ich räusperte mich. ,,Du... du wusstest, wie es hier aussieht, oder?"
Sein Blick glitt kurz über die Zelle und dann zurück zu mir. ,,Du solltest es auch wissen."
Er ging weiter und ich folgte ihm zögerlich. Der Blick in die nächste Zelle, ließ mich erneut zusammenzucken. Ein Mann, der nicht einmal reagierte, als wir vor dem Gitter stehen blieben. Die Adern waren unter seiner bleichen Haut hervorgetreten, er sah aus, als hätte der Tod ihn berührt. Ich atmete tief ein und stieß langsam die Luft aus. ,,Warum sind sie noch hier?", fragte ich Rune. ,,Die Ratssitzung ist schon gewesen und wenn es neue Gefangene sind, sollten sie... Sie sollten nicht so aussehen."
Rune drehte den Kopf in meine Richtung. ,,Sie wurden auf der Sitzung verurteilt. Wann ihre Bestrafung stattfindet, wissen sie nicht. In der Regel hat es damit auch niemand eilig, solange sie hier sicher verwahrt sind."
Sie wurden hier also mit dem Wissen, was ihre Strafe sein würde, festgehalten und dass diese jederzeit, ohne jede Vorwarnung ausgeführt werden konnte. Von ihrem körperlichen Zustand mal abgesehen, war das Folter - psychische Folter. Dabei war ich mir nicht einmal sicher, ob die Gefangenen hier noch klar denken konnten. Sie sahen furchtbar aus. Und ich wusste nicht, was sie getan haben mussten, damit sie das verdienten.
Rune sah mit mir noch in weitere Zellen, bis die Kälte in mir so überwältigend war, dass ich zu Zittern begann. Scheiße, das war doch krank. Das war alles einfach nur krank.
Als Rune meine zitternden Hände bemerkte, räusperte er sich. ,,Lass uns gehen."
,,Aber ich habe noch nicht-"
,,Du hast genug gesehen", erwiderte er. Behutsam nahm er meine zittrige Hand, dann zog er mich sanft, aber bestimmt zurück zum Eingang. Dabei wanderte mein Blick zur Seite und blieb ein weiteres Mal an der ersten Zelle hängen. Mir fuhr ein Schauer über den Rücken. So verdammt krank.
Als wir schließlich wieder draußen waren und mir die zarten Strahlen der Sonne ins Gesicht schienen, atmete ich erleichtert die frische Luft ein. ,,Das... Das..." Ich suchte nach den richtigen Worten. ,,Das ist abartig."
Rune warf mir einen langen Blick zu. ,,Das ist, wie der Rat mit Gefangenen umgeht. Seit jeher."
Erst jetzt fiel mir auf, dass er noch immer meine Hand hielt. Mein Blick wanderte von seinen tätowierten Fingerknöcheln zurück in sein Gesicht. ,,Langsam... Langsam verstehe ich, warum Seth damals gegangen ist", sagte ich zögerlich.
Runes Blick schien ebenfalls für einen kurzen Moment in unsere ineinander verschränkten Hände zu fallen, aber er ließ sich nichts anmerken und sah mir daraufhin wieder in die Augen. ,,Bei Seth ist es nur eine Frage der Zeit gewesen." Er sah mich nachdenklich an. ,,Er stand noch nie hinter diesem System, die letzte Hürde ist gewesen, mit den Kreaturen zusammenzuarbeiten, die er sein ganzes Leben bekämpft hat."
Seth war selbst zu einem Teil Vasanist gewesen. Das musste ihm die letzte Hürde genommen haben. Nachdenklich ließ ich meine Finger über den Zopf gleiten, den Rune mir geflochten hatte, und sah anschließend zu ihm auf. ,,Was denkst du dazu? Müssen Vasanisten bekämpft werden?"
Er zuckte mit den Schultern. ,,Es ist nicht meine Aufgabe, das zu beurteilen."
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Inferno - Todessohn III
FantasyDas Mädchen, das den Anführer der Rebellen bezwungen hat - ein Ruf, auf den Cleo alles andere als stolz ist. Am Internat wird sie dafür gefeiert, die durch die Rebellen drohende Gefahr abgewendet zu haben. Ohne ihren Gott bricht die Rebellion langsa...