Prolog

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Unwohl sah die hellgraue Kätzin mit dem buschigem Fell sich um. Sie war eine Hauskatze, eine Freigängerin zwar, aber nicht für den Wald geschaffen.

Und dennoch war sie hier. Weil sie gebraucht wurde.

Das trockene Laub unter ihren Pfoten raschelte sanft, als sie ihre Pfoten darauf setzte. Sie seufzte. Es wurde Herbst. Wieder einmal. Der laue Sommerwind wurde stürmischer, unberechenbarer, kälter. Sie sollte nicht hier sein.

Aber sie wurde gebraucht.

Sie stützte sich auf einem Felsen ab und spähte angestrengt in den Wald. "Cindy?" Hierher hatte ihre schusselige Schwester sie bestellt. Aber sie konnte den weißen, schwarz gesprenkelten Pelz nirgendwo entdecken.

"Cindy!" Immer noch keine Antwort. Sie seufzte noch einmal und betrat dann den herbstfarbenen Wald.

"Da bist du ja!" Erschrocken machte die Kätzin einen Satz nach hinten, als Cindy aus dem Gebüsch hervorlugte. Fröhlich stand sie auf und schüttelte sich Laub aus dem Fell.

"Warum hast du mich gerufen, Holly?" wollte sie wissen.

"Du wolltest doch, dass ich hierherkomme." gab Holly zurück.

"Stimmt. Schau mal!" Die schlanke, weiße Kätzin hüpfte zur Seite und gab den Blick auf die Kuhle im Gebüsch frei, in der sie geschlafen hatte. Holly verschlug es den Atem.

"Du...Du hast ein JUNGES?" Ungläubig starrte sie das kleine Wesen an. Es hatte nur ganz kurzes, dünnes Fell mit zartem Schildpattmuster und ähnelte ein wenig einer Maus, wie es da zusammengerollt auf dem Moos lag und schlief.

"Ja, ist das nicht toll?" Fröhlich sah Cindy ihre Schwester an. "Es ist zwei Tage alt."

"Toll?" fauchte Holly. "Toll? Du kannst kaum für dich selbst sorgen, geschweige denn für ein Junges! Was hast du dir nur dabei gedacht? Und überhaupt, wer ist der Vater? Hat es Geschwister?"

Verlegen sah Cindy zu Boden. "Den Vater habe ich vor ein paar Monden kurz getroffen. Ob er Geschwister hat, weiß ich nicht."

"Ich meine nicht den Vater, ich meine dein Junges." erwiderte Holly aufgebracht.

"Ich weiß!" schoss Cindy zurück. "Es ist ein Kater."

"Du weißt nicht, ob du noch mehr Junge zur Welt gebracht hast?" Ungläubig starrte Holly sie an.

"Ich war bei der Geburt ohnmächtig. Eine fremde Streunerin, sie heißt Jasmin, hat mir geholfen. Als ich wieder wach war, war nur noch er da." Liebevoll kringelte sie den Schweif um ihr Junges.

Genervt stöhnte Holly auf. Aber was hatte sie schon erwartet? "Hast du wenigstens einen Namen für den Kleinen?"

"Noch nicht. Aber ich glaube, ich nenne ihn Ahorn." Cindy wies mit dem Schweif auf den Baum, der seine Blätter schützend über die kleine Familie neigte. Es war ein junger Ahornbaum.

"Dann nenn ihn eben Ahorn." seufzte ihre Schwester. "Aber wo willst du mit ihm hin? Zweibeiner nehmen keine Mütter auf, das weißt du doch."

"Ich wollte mich eigentlich Jasmins Gruppe anschließen, aber ich finde sie nicht mehr." gab Cindy zu. "Und zu den Clans gehe ich nicht!"

"Musst du ja auch nicht." Holly sah auf das Junge herab. "Aber es wäre eine gute Wahl, wenn du nicht weiter weißt. Sie leben ja nicht weit weg."

Cindy beugte sich hinunter und leckte dem Jungen über den Kopf. Quiekend wachte es auf und strampelte mit den winzigen Pfoten.

"Um Gottes Willen!" stöhnte Holly. "Du musst es mit dem Strich lecken, nicht dagegen!"

"Ups." Cindy leckte es nun dem Fellstrich nach und das Junge schnurrte kaum hörbar. Kriechend suchte es nach Milch. Cindy legte sich hin und ließ das Junge trinken.

"Aber ich habe von einer weiteren Streunergruppe gehört." erzählte sie. "Sie wird von einer Streunerin namens Sky angeführt und wandert in Richtung Norden. Wenn ich Glück habe, erwische ich sie, bevor die Blattleere beginnt." 

Holly schauderte bei der Vorstellung, wie Cindy und Ahorn in der Kälte herumirrten. "Sicher, dass du nicht einfach zu den Clans gehen willst?"

"So sicher, wie...wie auch immer. Ich gehe nicht zu den Clans!" Empört sträubte sich Cindys Nackenfell.

"Holly! Schnuckiputzi, wo bist du denn?"

"Ich muss gehen, meine Zweibeiner rufen schon." seufzte Holly. "Bitte mach dich bald auf den Weg, ja? Sobald Ahorn die Augen aufmacht und einigermaßen laufen kann. Denk daran, du kannst ihn auch tragen, am Nackenfell." Bedrückt ließ sie den Schweif hängen. Bald wäre Cindy weit weg, immer auf Wanderschaft mit der Streunergruppe. Wie sollte sie das bloß aushalten?

"Weiß ich doch." Cindy erhob sich und stupste Holly beruhigend an. "Wir sehen uns wieder, keine Sorge."

"Bis...irgendwann." murmelte Holly und machte sich auf den Heimweg. Die Angst um ihre Schwester und ihr Junges drückte ihr Herz wie eine eisige Klaue zusammen. Was würde bloß aus ihnen werden?

⋆✧✧⋆

Wenige Tage später machte Cindy sich mit Ahorn auf den Weg. Der kleine Schildpattkater hatte große, intensiv blaue Augen, genau wie seine Mutter und Holly, die Cindy schrecklich vermisste. Trotzdem stapften sie tapfer durch hohe Laubberge und trotzten eisigen Winden.

Je weiter sie in den Norden kamen, desto kälter wurde es. Sie liefen einen großen Bogen um die Clanterritorien und gelangten schließlich an den Fuß der Nebelberge.

"Warte hier auf mich, ja, Schatz?" Liebevoll putzte Cindy Ahorns Fell, nachdem sie ihn auf einen sonnengewärmten Felsen gelegt hatte. Der Kleine schnurrte. "Ich bin nur kurz weg, um zu jagen." erklärte Cindy. "Genieße die Sonne!"

Mit großen Augen sah der kleine Kater seiner jungen Mutter hinterher, wie sie davonstob. Ihr weißes Fell blitzte hell in der Sonne auf, dann zogen Wolken über den Himmel und nahmen ihm die Sicht auf seine Mutter.

Cindy schaute zurück. Verloren lag Ahorn auf dem Felsen, die kleinen Pfoten ordentlich ausgestreckt, das runde Gesicht von feinen Streifen umrahmt. Es brach ihr das Herz, ihn zurückzulassen, wenn auch nur kurz. Aber sie musste etwas essen.

Wenn sie nur gewusst hätte, dass sie ihn nicht wiedersehen würde.

⋆✧✧⋆

In dem kleinem Waldstück fühlte sie sich beobachtet. Egal, wohin sie sich wandte, immer raschelte etwas im Gebüsch, Augen blitzten gierig hervor. Zwischen den Bäumen war es seltsam dunkel.

Dann drehte sich der Wind und sie erkannte einen Geruch, von dem sie gehofft hatte, ihn nie wieder riechen zu müssen.

Ein Schatten schoss aus dem Dunkel hervor. Erschrocken machte Cindy einen Satz nach hinten. Das Etwas schoss knapp an ihrer Kehle vorbei. Sie konnte nicht erkennen, was es war. Ein Schatten. Ein Fuchs? Eine Katze? Er? 

Sie wusste es nicht - sie wusste nur, dass sie Ahorn in Sicherheit bringen musste, bevor es zu spät war. Also hastete sie los, schnell wie ein fliehendes Reh, obwohl sie wusste, dass sie keine Chance hatte.

Nicht, wenn er es war.

Sie schaffte es aus dem Wald. Schaute zurück. Hoffte, dass sie es sich nur eingebildet hatte. Dann sah sie zum Felsen und heulte auf wie ein tödlich verwundeter Wolf.

Er war leer.


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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 25 ⏰

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