2. Kapitel | Eine gute und eine schlechte Nachricht

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Die Morgensonne hüllte das Stadtviertel Quartier Latin in hellgelben Dunst und die Stadtgeräusche aus le Marais hallten wie ein fernes Rauschen über die Seine. Der Herbst machte sich langsam in den Parks bemerkbar. Blätter färbten sich goldgelb, die Tauben, die grundsätzlich überall saßen, wurden gieriger. Und man sah bereits die ersten Männer und Frauen in Strickpullovern auf den Straßen.

Lou liebte es, sich morgens aus dem Fenster zu lehnen und wie eine Katze Vögel und Menschen zu beobachten. Als sie Liam unten auf der Straße sah, deutete sie gekonnt ein Wolfsheulen an. Dieser zuckte folglich so heftig zusammen, dass er beinahe die Einkaufstüte fallen ließ. Mit höchst unbeholfenen Bewegungen schaffte er es, sein Gleichgewicht zu finden und die Tüte festzuhalten. Dann fror er in seinen Bewegungen ein und schaute langsam zu Lou hoch, die sich vor Lachen krümmte.

»Hey! Ich hätte die Croissants fallen lassen können! Du Irre!« Er rückte seine Brille zurecht und schaute sich paranoid um. Eine schwarze Locke fiel ihm dabei über die Stirn. »Lou, ich hätte fast den Wolf rausgelassen!« Während er gekrümmt zum Eingang schlich und mit zitternden Händen die Tür aufschloss, rief er lachend hoch, dass sie gefälligst aufhören sollte zu lachen. Man konnte ihm ansehen, dass er sich gerade nur mit sehr viel Mühe nicht in einen Wolf verwandelte.

Lou hing mittlerweile am Geländer und wischte sich eine Träne von der Wange.

Sie wechselten sich an freien Tagen stets ab mit der morgendlichen Nahrungsbeschaffung. Obwohl Liam heute dran war, hatte sie nach den Vorkommnissen gestern nicht damit gerechnet, dass er noch los ging. Vielleicht ging es ihm heute besser.

Sie warf sich schnell einen langen Pullover über und rannte die Treppe hinunter in den offenen Bereich. An der Haustür hörte sie bereits das Schloss zweimal knacken. Liam stürmte herein, drückte hastig die Tür zu, stellte die Tüte ab und schloss wieder ab. Sofort zog sich Mantel, Schuhe, Hemd und Hose aus, als wären sie voller Bettwanzen. Lou hielt sich den Bauch vor Lachen und versuchte auf das Hinweisschild im Eingang zu deuten, was aber nicht so wirklich funktionierte. Dort stand unter anderem, dass man in der Küche nicht shapeshiften soll und dass nicht geheult werden durfte. Ach und man sollte nicht nackig herumlaufen.

Liam grinste vorfreudig und leckte sich über die Zähne. Plötzlich wirkte er nicht mehr so schlacksig und fein. Seine Augen bekamen einen gefährlichen Ausdruck, seine Muskeln spannten sich an und sein Grinsen wurde breiter. Er knurrte laut und sprang hoch. Als seine Hände den Boden berühren, wurden sie zu Pranken mit tiefschwarzem Fell. Vor Lou, die noch immer nach Luft schnappend am Boden kauerte, schob sich ein großer Wolfskopf in den Raum. Langsam und bedrohlich. Seine Wolfsgetalt war riesig, passte gerade so mit dem Hintern in den Eingangsbereich. Er bleckte seine Zähne und machte dann Anstalten Lou zu verschlingen. Ehe sie protestieren konnte, schleckte er durch ihr Gesicht.

»Danke, Liam! Danke!«

Er sabberte extra viel. Selbstverständlich.

»Ich weiß, ich hab es verdient«, gab Lou zu, während sie versuchte mit einem Arm die klebrigen Sabberfäden aus ihrem Gesicht zu entfernen. »Aber ich konnte nicht wiederstehen.«

Liam setzte sich schnaufend und schüttelte sein Fell.

Lou fasste sich geschockt an den Kopf und deutete auf den roten Teppich und die Sessel im Wohnbereich, die nun das ganze Fell wie ein Magnet anzogen. »Liam es ist Herbst! Fellwechsel! Wenn du jetzt auch noch furzt, bringe ich dich um!«

Der Wolf duckte sich und schnüffelte ertappt am Sofa. Die Morgensonne, die durch das Fenster schien, offenbarte einen rotbraunen Ton in seinem ansonsten sehr dunkel wirkendem Fell. Vorsichtig nahm er eine der Decken in sein Maul und legte den Rückwärtsgang ein. Sehr bedacht drauf, nichts in der Wohnung zu zerstören. Die Topfpflanze am Eingang zum Beispiel. Oder den kleinen Hocker mit einem Stapel Bücher über Mikrobiologie und Genetik. Nach einem ausgiebigen Strecken verwandelte er sich zurück und wickelte sich in der flauschigen Decke ein. Noch etwas desorientiert fischte Liam nach seiner Brille. »Nein, danke. Keine vernichtenden Werwolf Fürze heute. Ich will in Ruhe frühstücken und nicht auf den Teller kotzen.« Er schaute still auf die zerrissenen Socken und die zerstörte Shorts. Das war es wert. »Kann ich mir Socken von dir leihen?«

Liam war ein guter Mensch und ein guter Wolf. Familie bedeutete ihm alles und in Konflikten war er stets derjenige, der der Harmonie wegen nachgab. Lou war da ein wenig kratzbürstiger. Wenn man mit ihr diskutierte, setzte sie einen schnell mit wohl überlegten und wenigen Worten Schachmatt. Niemand konnte es mit ihr aufnehmen, wenn ihr wirklich etwas an der Debatte lag. Niemand außer Liam. Er zeigte es nicht oft, aber er war vermutlich noch schlauer als sie.

Während Liam mit geblümten Socken und Shorts bekleidet das Apartment staubsaugte bereitete Lou das Frühstück vor. Croissants mit Marmelade. Dazu Reste Orangensaft und Wasser. Etwas Dönerfleisch war auch noch übrig geblieben. Als sie gerade frisch gebrühten Kaffee in eine schlichte Tasse goss, klingelte Liams Handy. Sein Kopf schnellte sofort hoch, als hätte er eine Vorahnung. Er stellte den Staubsauger aus und starrte aufgeregt auf das Display, das neben seinem Teller auf dem Tisch lag.

Lou beobachtete ihn genau. »Ist er es?« Sie musste nicht auf das Display schauen um zu erkennen, wer anrief. Sie sah es an seinem Blick. Seine Augen leuchteten. Mit dem Staubsauger in der einen Hand nahm er den Anruf an.

»Bonjour Phillip.« Er fing an, geistesabwesend mit dem Fuß am Tischbein herumzudrücken. »Wirklich? Das ist ist besorgniserregend...« Er kräuselte seine Stirn und wanderte etwas durch die Gegend. »Ja, wir kommen vorbei, bevor wir abreisen. Bist du dann wieder unten? Im Z? Können wir den Gullideckel nehmen? ... Ach Mist, war ja klar. ... Ok, kriegen wir hin. ... Ja, das wäre nicht schlecht. Wir hören dich ja...« Dann lächelte er plötzlich sehr breit. »Wir sehen uns! Und vielen Dank! À tout à l'heure!«

Er tippte dramatisch auf das Display und ließ seinen Kopf in den Nacken fallen. Dann schaute er mit einem zuckersüßen Lächeln zu Lou herüber. Das Sonnenlicht betonte seine hohen Wangenknochen und machte den holzigen Unterton in seinen Locken sichtbar.

Lou verschränkte schon gespannt ihre Finger und blinzelte mit einem sanften Lächeln auf den Lippen.

»Eine gute und eine schlechte Nachricht«, flüsterte Liam, hechtete dann auf seinen Stuhl und sah Lou aufgeregt in die Augen.

»Die gute?«

»Es war Phillip. Er möchte, dass wir zu ihm in die Katakomben kommen. Er freut sich uns zu sehen. Er hat uns vermisst.« Seine Wangen glühten. »Mich vor allem«, ergänzte er leise nach einem kurzen Zögern.

Lou zappelte aufgeregt, weil sie sich einbildete, die Aufregung ihres Zwillignsbruders in ihrem eigenen Körper zu spüren. »Das ist wirklich eine gute Nachricht! Naja, abgesehen davon, dass wir wieder am helligten Tag Gullideckel anheben müssen.« Sie rührte in ihrem Kaffee herum und umschloss die warme Tasse dann mit ihren Händen.

»Der Eingang wurde gestern zugeschweißt. Wir müssen den am Park nehmen.« Liam griff nach einem Croissant und dippte es in Marmelade.

»Oh nein... Der Weg ist dann so lang. Aber immerhin sind da nicht so viele Leute wie auf der Straße.«

»Er kommt uns aus dem Z-Raum entgegen und nimmt die Probe mit.«

Lou hob ihre Augenbrauen. »Probe?«

»Das«, Liam schürzte die Lippen und öffnete den Orangensaft, um daran zu riechen, »ist die schlechte Nachricht. Er hat einen Werwolf gefunden. Also... Du weißt schon. Eine Bestie. Zwar tot, aber trotzdem. Sie sind mittlerweile schon in Paris. Das ist nicht gut. Er hat für uns etwas Haar und Speichel von ihm mitgenommen. Wir sollten heute unbedingt Papa und die anderen informieren, wenn wir im Rudelhaus ankommen.«

Lou massierte sich die Schläfen. »Oha... Stell dir vor du bist nachts im Park unterwegs und wirst dann von so 'nem hässlichen Viech angeknabbert. Ich wünschte sie würden wenigstens gut schmecken, aber das ist ja leider nicht der Fall.« Sie starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Ein paar weiße Tauben saßen auf den Bäumen im Innenhof.

»Sie müssen irgendwie«, Liam fuchtelte, nach Worten fischend, mit den Händen herum, »ansteckend sein oder so. Anders kann ich mir diese rasante Verbreitung nicht erklären. Sie sind ja immer alleine und nie in Paaren unterwegs.«

»Du meinst, das sind richtig klassische Werwölfe wie aus den Horrorfilmen?«

Er zuckte ratlos mit den Schultern.

Keiner von ihnen hatte eine plausiblere Erklärung.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 23 ⏰

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