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Wincent

Mir war bewusst, dass Anna eigentlich Recht hatte. Ich konnte nicht mal eben ein Konzert oder mehrere absagen. Kurz dachte ich darüber nach, sie einfach immer mitzunehmen, aber das war vielleicht zu viel Stress. Sowohl für sie als auch für Fritz. Anna brauchte eigentlich Ruhe und Zeit, wieder alles zu ordnen. Da war eine Tour einfach nicht förderlich. Vielleicht, wenn die Therapie gut lief, konnte ich sie mit zu einem Konzert nehmen. Soweit ich mich erinnerte, waren die nächsten zwei sehr stressig und mit langen Autofahrten verbunden. Also musste ich mal schauen, was danach war.
Da Anna gerade aber wieder mental halbwegs stabil war, dachte ich darüber nach, das Thema Therapie anzusprechen. Auch wenn es mir schwer fiel, da ich genau wusste, dass ich in zwei Tagen nach Friedrichshafen musste. Ich wollte nicht acht Stunden von ihr entfernt sein.
„Wince?"
„Ja?"
„Was machen wir jetzt?"
„Schlafen. Und morgen schauen wir weiter."
„Okay. Fritz?", fragte sie.
„Ist versorgt."
„Kann... ich vielleicht baden gehen?"
„Natürlich. Komm, ich mach es dir fertig", sagte ich und wir standen vom Sofa auf.
Während Anna kurz ins Schlafzimmer ging, lief ich ins Badezimmer und füllte die Wanne mit warmem Wasser. Ich fand noch ein wenig Badezusatz, der entspannend wirken sollte. Den kippte ich noch hinein und legte Handtücher bereit. Da kam auch schon Anna in den Raum, wirkte aber unsicherer als ich sie kannte.
„Alles gut?"
„Ja", antwortete sie.
„Komm her."
Anna kam zu mir und ich nahm sie nochmal ganz kurz in den Arm. Dann half ich ihr beim Ausziehen, wobei Anna sich mehr und mehr in sich zurückzog.
„Ist wirklich alles in Ordnung?", hakte ich skeptisch nach. „Brauchst du kurz für dich?"
„Bitte bleib", bat sie mich.
„Okay. Aber ich will nicht, dass du dich unwohl fühlst."
Sie erwiderte nichts und das ließ mich auch unsicher werden. Ich wollte ihr nicht zu nahe treten und diese Widersprüche verwirrten mich. Ihr Körper spiegelte, dass sie sich unwohl fühlte, aber sie sagte, dass alles so bleiben sollte. Allerdings vertraute ich Annas Worten ein wenig mehr und half ihr, in die Badewanne zu klettern. Ich suchte meine Playlist nochmal raus und ließ sie leise im Hintergrund laufen.
„So?", fragte ich.
„Ja, danke."
„Ich geb dir kurz einen Moment, okay? Ich bin aber direkt nebenan im Schlafzimmer, wenn etwas ist."
„Okay."
Ich ließ Anna kurz alleine und war ziemlich froh, dass ich auf meinem iPad auch WhatsApp hatte. So konnte sie weiter Musik über mein Handy hören und ich konnte mit Marco schreiben. Den brauchte ich nämlich jetzt, da ich einen Verdacht hatte. Ich wusste nur nicht, wie ich damit umgehen sollte.
Ich zog mich schnell um und machte es mir dann mit dem iPad auf dem Bett bequem. Fritz leistete mir Gesellschaft und legte sich in sein Körbchen, wo er immer schlief.
Der Chat mit Marco war glücklicherweise noch immer ganz oben, sodass ich nicht lange suchen musste. Kurz dachte ich nach, aber dann fiel mir ein, dass er meine Sorge nur so halb verstehen würde. Also scrollte ich doch weiter durch und begann dann zu tippen.
Während ich eher ungeduldig auf eine Antwort wartete, ging ich einige eingegangene Mails durch, aber richtig konzentrieren konnte ich mich nicht. Also markierte ich alle wichtigen wieder als ungelesen und schloss das Programm. Nach fünf Minuten, in denen ich zwischen meiner Uhr und Fritz hin und her sah, kam endlich die erlösende Nachricht.
»Hey Wince. Das klingt auf jeden Fall nicht sehr gut... Ich habe da ehrlicherweise nicht so drauf geachtet, aber sie ist generell gerade sehr angeschlagen.  Ich denke, wir müssen da einfach ein Auge darauf haben. Wenn wir auf Tour sind, kann Lara vielleicht nach ihr schauen?«
Ich dachte nach und schrieb dann eine Antwort.
»Danke, Mats. Alles gut. Hätte ja sein können, dass dir etwas aufgefallen ist. Lara ist, soweit ich informiert bin, nicht eingeweiht. Ich weiß nicht, ob Anna ihr das aus der Not heraus erzählen würde. Keine Ahnung. Ich habe noch keine kluge Idee für die Tour gefunden...«
Mats las die Nachricht sofort und begann zu schreiben.
»Das ist dann in der Tat schwierig. Ich denke auch mal drüber nach, aber ich schätze, irgendjemanden müssen wir mit einweihen. Wenn du etwas hast, schreib einfach, ich bin eh noch wach.«
Der Mann und seine Nachtschichten. Die Tour würde so schon schlafraubend genug sein, da brauchte er nicht vorher schon Schlafmangel. Doch ich brauchte ihn nicht drauf ansprechen, das würde nichts ändern. An der Stelle waren wir gleich.
»Mach ich, aber wir sollten dennoch versuchen, ein wenig Schlaf zu bekommen.«
»Alles klar, Boss.«

Annalena

Das warme Bad tat mir ziemlich gut, denn es ließ mich für einen kurzen Moment vergessen, was gerade los war. Ein bisschen Normalität im ganzen Kampf mit mir selbst und meiner Vergangenheit. Ich hatte keine Ahnung, wie das hier weitergehen sollte. Ich wollte einfach zurück in die Zeit, in der ich mit Wincent nur glücklich war. Wo meine Geschichte keine Rolle spielte, sondern nur das Hier und Jetzt zählte. Und vielleicht ein bisschen die Zukunft, für die ich zum ersten Mal richtige Hoffnung hatte.
Doch leider ging das nicht mal eben so. Ich wusste, dass der einzige Weg war, wieder professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Allerdings wollte ich auf keinen Fall wieder in eine Klinik, denn das schaffte ich kein zweites Mal. Abgesehen davon, dass ich die Trennung von Wincent nicht verkraften könnte.
Wie auf's Stichwort klopte es leicht an der Badtür.
„Komm rein", forderte ich ihn auf.
Ich hörte die Tür sich öffnen und spürte, wie mein Freund den Raum betrat.
„Na, alles gut?", wollte er wissen.
„Ja. Das Bad war sehr gut. Danke."
„Nicht dafür. Soll ich dir helfen?"
„Gerne."
„Dann komm."
Er nahm meine Hand und vorsichtig stieg ich aus der Wanne. Im nächsten Moment packte Wincent mich schon in ein großes Handtuch ein und hielt mich fest. So standen wir einfach im Bad und ich genoss es sehr. Er schien genau zu wissen, dass ich gerade jede mögliche Nähe brauchte. Als ich mich fertig abgetrocknet hatte, zog ich mir Schlafsachen an. Wincent hatte mir eine Leggings gegeben und eines seiner Shirts. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, putze ich noch schnell Zähne, bevor ich mich im Bett in Wincents Arme kuschelte. Ich schlief einfach am besten, wenn er mich festhielt.
Am nächsten Morgen fühlte mich mich schon wieder mehr als Mensch. Es tat mir gut, dass Mats und vor allem Wincent sich so um mich kümmerten. Natürlich wachte mein Freund auf, als ich leise aufstehen wollte.
„Hey, wo willst du hin?", fragte er noch leicht verschlafen.
„Nur kurz ins Bad. Bin gleich zurück", antwortete ich.
„Okay."

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt