𝕴ch blickte in Augen, die in eine Unendlichkeit zu schauen schienen. Der Glanz des Lebens in ihnen war erloschen. Doch diese Leblosigkeit hatte eine gewisse Schönheit in sich, die sich kaum in Worten beschreiben ließ. Hatte das seelische Leben einst jede Faser dieses Körpers durchdrungen, verblieb nach ihrer Trennung nur noch die Hülle selbst, die zu ihrer ursprünglichen Ruhe und Unschuld zurückgefunden hatte. Ihre Haut war so weiß wie der Schnee, der die äußeren Fassaden der Burg bedeckt hatte, und still lag der schmale Leib auf dem kühlen, steinernen Boden der Kammer, die sie einst in Wärme beherbergt hatte. Es war Anna Darvulias Kammer gewesen.
»Welches Hexenwerk hast du angewandt, um sie mir so zu nehmen?!«, rief die grófnő erzürnt aus und stieß mich zu Boden. János stand stumm neben ihr und betrachtete mich wie durch einen Schleier der Gleichgültigkeit. Sie beide beschuldigten mich des Mordes.
»Meine Herrin, ich habe nichts mit dem Ableben Frau Darvulias zu tun. Ich befand mich immerzu dort, wo Ihr mich auffandet.«
Ein kühler Wind strich durch das halbgeöffnete Fenster der Kammer, der vom leisen Rascheln verbliebener Blätter halbnackter Bäume begleitet wurde. Ein bedrohliches Schweigen erwiderte die Worte, die ich zuvor gesprochen hatte, und lastete schwer auf meinen Schultern. Diese schöne Frau, von der so viele meinten, sie sei vom Leben gesegnet worden, hatte mir nun selbst offenbart, wie arm sie doch in Wahrheit war. Anna, gleichwie grausam und kaltherzig sie zu sein schien, hatte scheinbar etwas Besonderes an sich gehabt, das zwischen ihr und der grófnő eine tiefe und innige Beziehung geschaffen hatte. Ihr Tod hatte die Burgherrin tief getroffen.
In dieser angespannten Stille hallte nun das leise Knarren von Schritten durch den Raum, die mir bedrohlich nahegekommen waren. Die schwerwiegende Spannung in der Luft erreichte ihren Höhepunkt und entfaltete sich durch zahlreiche Fußtritte, die gegen meinen Körper stießen. Erneut wurden meine Sinne mit Qualen durchflutet, die schmerzhaft durch meine Glieder drangen.
In dieser Pein trat unerwartet János zwischen die grófnő und mir und sprach: »Meine Herrin, ich bin ebenso wie Ihr erschüttert über Annas unerwartetes Ableben, doch solltet Ihr Euch Eurer eigenen Gesundheit wegen nicht so in Eurem Zorn verlieren. Bitte überlasst diese Angelegenheit mir und ich verspreche Euch, mich bis zu Eurer vollsten Zufriedenheit um diese zu kümmern.«
»Wie kannst du – ein standloser Straßenjunge – es wagen, mir vorzuschreiben, wie ich mich zu verhalten habe?!«, schrie die Burgherrin den vor ihr sichtlich eingeschüchterten jungen Mann an. Erneut breitete sich das schwere Gefühl von Hilflosigkeit in meiner Brust aus und die Geräusche der Schläge, die nun János zugefügt wurden, prallten wie Peitschenhiebe gegen meine Ohren. Inmitten dieser Unruhe verloren sich meine Augen in denen der Toten vor mir, die gleichgültig an mir vorbauschaute – in eine stille Unendlichkeit.
—~—
Die düsteren Tiefen des Ortes, der von Verfall und Vergessenheit gekennzeichnet wurde, erstreckten sich vor mir. Einzig das schwache Flackern einer einsamen Fackel spendete mir ein wenig von ihrem wärmenden Licht und offenbarte verwitterte Gemäuer und einige verrostete Ketten, die von den Wänden herabhingen. Den Kerker von Burg Csejte durchdrang ein Geruch aus Moder und Nässe, der mir jeden Atemzug erschwerte.
»Du verachtest mich bestimmt«, durchbrach János' Stimme die trostlose Stille, die uns umgeben hatte.
»Schone dich. In dieser Verfassung solltest du deine Kräfte nicht mit Sprechen vergeuden.«
»Wie kannst du, nach all den schrecklichen Dingen, die wir – ich – dir angetan haben, solch eine Ruhe bewahren, Evièka?!«
Indem ich tief in mir wusste, dass alles, was war, geschehen musste. Ich wollte die Dunkelheit erfahren und so wurde ich ihr ausgesetzt. Dass ich ihn, der mich an der schrecklichen Erfahrung der körperlichen Schändung teilhaben ließ, nicht verachten konnte, lag daran, dass ich eines begriffen hatte: Verachtung, die doch das verkörperte, das nicht unserer Natur entsprach, war das Gift gewesen, das den Körper und den Geist zerfraß und die Menschen zu denselben Handlungen trieb, die ihre Mitmenschen auf gleiche Weise vergiften sollten. So nährten wir Generation für Generation dieses zerstörerische Gefühl und wiederholten immer wieder dieselben schmerzhaften Erfahrungen. Ich wollte dieses Elend nicht weitergeben.
DU LIEST GERADE
Angst
Historical FictionIm Ungarn des frühen 17. Jahrhunderts häufen sich die grausamen Funde von Leichen junger Mädchen in der Nähe von Burg Csejte. Die Gerüchte über die Beteiligung der Gräfin aus dem einflussreichen Haus Báthori von Ecsed an diesen Serienmorden sind wei...