Glüchwürmchen

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Die Glühwürmchen flogen wie kleine Funken durch die Nacht. Die Sonne würde in den nächsten paar Stunden aus der Dunkelheit hervorbrechen und den letzten Tag im Juli offiziell beginnen lassen. Der Sommer war langsam, aber sicher über das kleine Dorf gezogen; seit ein paar Wochen war es nur noch warm. Selbst das Atmen brachte ihn zum Schwitzen, wenn er sich durch seine kleine Wohnung bewegte.

Resigniert schloss er seine Augen und nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette, bevor er den Stummel aus dem Fenster des zweiten Stocks schnippte. Alles fühlte sich schwerfällig und anstrengend an. Im Sommer schmeckten die Zigaretten herber und schwerer, stellte er fest.

Der Computer machte ungesunde Geräusche während des Einschaltens und selbst die Eiswürfel brauchten zu lange zum Gefrieren. Nur mitten in der Nacht, um kurz nach halb drei, war das Leben während dieser Tage des Jahres wirklich erträglich. Blinzelnd öffnete er seine Augen und bemerkte, dass die Glühwürmchen sich immer weiter von ihm entfernten. Selbst die schweigsamen, kleinen Geschöpfe konnten auf seine Gesellschaft verzichten, so wie scheinbar jeder andere Mensch auch. Die Semesterferien hatten zwar vor kurzem erst begonnen, doch seit dem letzten Tag der Vorlesungen hatte sich niemand bei ihm gemeldet, niemand hatte ihn auf die glanzvollen Partys zum Ferienstart eingeladen. Wieso auch, am Ende hätte er sich wieder nur drei Tage abgemüht, eine neue kreative Art zu finden, wie er am Ende wieder absagen kann. Irgendwann wird man eben nicht mehr eingeladen, dachte er bei sich und ließ sich an dem kalten Heizkörper unter seinem Fenster herunterrutschen. Auch nicht schlimm, so müssen wenigstens keine neuen Ausreden mehr her. Melancholisch verzog er seine Mundwinkel zu einem Lächeln, während er die Träne aus seinem Augenwinkel fischte, bevor Sie seine Wange erreichen konnte. Nicht, dass er nicht weggehen oder Freunde haben wollte, im Gegenteil. Nicht nur die Abgeschiedenheit der letzten Semester hatten ihn innerlich taub gemacht, er sah sich plötzlich Problemen ausgeliefert, der er von sich selbst vorher nie kannte. Introvertiertheit, Unsicherheit und Zukunftsängste hatten sich in den letzten Monaten in seinem Kopf breit gemacht. Von der Frohnatur mit Sommersprossen und einem breiten Grinsen war nichts mehr übrig, wenn er in den Spiegel schaute. Scheiße, WENN er denn überhaupt mal in den Spiegel schaute. Seufzend ließ er sich auf sein Bett fallen und lauschte dem sanften Wind in den Blättern des Ginkos vom Nachbarn.

Nach einer unruhigen, kurzen Nacht strahlte die starke Morgensonne in sein Fenster und weckte ihn mit der Erkenntnis, dass es nun den ganzen Tag viel zu heiß in seiner kleinen Wohnung sein würde. Nach einer Dusche, Kaffee und einem schnellen Frühstück zog er sich seine Shorts und ein luftiges Shirt an. Die langen, lockigen Haare fielen aus einem lockeren Zopf auf seinen Rücken, während er sein Notizbuch und Stifte in eine kleine Umhängetasche packte. Wenn es hier eh zu warm war, konnte er den Tag auch genauso gut draußen verbringen und irgendwo im Schatten liegen. Mit Sonnenbrille und Wasserflasche in der Hand ließ er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen. Auf der Treppe kam ihm seine Nachbarin mit ihrem Kinderwagen entgegen. „Hey, kann ich helfen?"; fragte er und streckte fragend die Hand aus, um den Kinderwagen mit ihr zu tragen. Ihr Blick wirkte eher verschreckt, geradezu überfordert, als Sie hastig den Kopf schüttelte und ihn an sich vorbei winkte. Er lächelte schmal und verließ das Haus. Auch wenn viele Menschen keine Masken mehr trugen, hatten sich viele andere Dinge sonst nicht verändert. Die Reserviertheit war geblieben, das kühle Gefühl, welches in jedem sozialen Moment andauerte, schienen viele einfach zu übersehen. Vielleicht mochten Sie es so lieber, als es vorher war. Vielleicht empfand es auch niemand sonst so. Für ihn persönlich war es das Schlimmste, was passieren konnte. Er konnte keine Menschen mehr lesen, denn jeder wirkte kalt. Wie er so seine alte Art zurückbekommen sollte, war ihm ein Rätsel, das ihn jeden Tag verfolgte. Seine Gedanken wurden durchbrochen, als er die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht fühlte und seine Sonnenbrille auf die Nase setzte. Die warme Luft fühlte sich für einen Moment so an, als könnte sie sein verkühltes Inneres wärmen. Auf dem Weg zum kleinen Baggersee der Gegend passierte er den Marktplatz der Innenstadt. In diesen Temperaturen wirkte der Wochenmarkt viel träger als sonst. Viele der Verkäufer saßen unter Sonnenschirmen und die meisten Kunden waren schon in den kühleren Morgenstunden hier. Er umrundete den Markt einmal in Ruhe und kaufte sich hier und da Kleinigkeiten, um über den Tag zu kommen. Nach wenigen Minuten wollte er seinen Weg fortsetzen und schulterte seine Tasche, als ihm jemand zaghaft auf den Rücken tippte. Erstaunt drehte er sich um, nahm seine Brille ab und musterte den jungen Mann in seiner grünen Schürze und seine Sonnenblume, die ihm gegenüberstanden. „Die passt zu dir", sagte der Unbekannte und drückte ihm die Sonnenblume in die Hand. „Die Blätter sind wie dein Shirt und deine Haare wie das Braun in der Mitte! Einen schönen Sommertag dir", sagte er und drehte sich ohne weiteres um. „Hey, warte, wieso?", rief er der grünen Schürze hinterher. „Wieso nicht?", erwiderte dieser mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Nach wenigen Momenten kehrte er zu einem kleinen Blumenwagen zurück, und begrüßte lächelnd eine neue Kundin anseinem Stand.

Perplex schaute sich der Beschenkte seine Sonnenblume an und schaute zurück zu dem Stand und seinem Besitzer. Einfach so? Wie reagiert man denn jetzt am besten? Lässt man es auf sich beruhen? Einfach stehen bleiben ist auf jeden Fall nicht die Lösung, beschloss er und setzte seine Sonnenbrille wieder auf. Er warf einen letzten Blick zum Blumenstand und der Sunflower Boy winkte ihm zum Abschied. Einige Meter weiter bemerkte er das Grinsen, das sich auf sein Gesicht geschummelt hatte. Die Sonnenblume war ein schönes Exemplar, fast symmetrisch rundherum. Ein paar Blütenblätter waren geknickt oder gerissen, aber das passte genauso zu ihm wie die Farbe zu seinem Shirt. Er hatte noch nie einfach so von einem Fremden Blumen bekommen - nein, er hatte allgemein noch nie von jemandem Blumen bekommen. Und der Mann hinter der Idee war zudem auch noch sehr attraktiv, mit verschmitzten Grübchen und leuchtenden Augen. Er war bestimmt die Art Mensch, die zu jeder Blume eine besondere Bedeutung kennt und stundenlang darüber reden kann. Ein richtiger Sonnenschein mit der Aura einer sanften Seele. Gedankenverloren bestritt er seinen Weg zum See und setzte sich unter einen schattigen Baum. Die Begegnung des Vormittages wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Sie hatte ein ebenso warmes Gefühl hinterlassen, wie der erste Atemzug, nachdem er sein Haus verlassen hatte. Seine Gedanken begannen sich langsam um sich selbst zu drehen. Die innere Leere, mit der er immer wieder zu kämpfen hatte, die Gefühle, die er nicht mehr auf der Zunge tragen konnte, kamen wieder hoch.

Wieso hatte er einfach nichts weiter gesagt als „Wieso?", weshalb stand er da einfach wie angewurzelt.

Vor dieser innerlichen Veränderung hätte er kaum gezögert, dies als Flirt anzunehmen und sich ein Date zu organisieren. Heute saß er unter einem Baum und beobachtete die erste Blume seines Lebens beim Sterben, wie er es auch schon mit seinem restlichen Leben getan hatte. Wie konnte er nur das werden, was er nie sein wollte; ein Rest von seiner Person, seinen Werten und seinem Pride. Stolz hatte er den Hass auf sich zukommen lassen nach seinem Outing, alles hingenommen und alles erduldet. Irgendwann ändern sich die Zeiten, progressiv wird es besser. Doch die Szene scheint sich nur mehr zu spalten, mehr Regeln zu machen, die niemand wirklich versteht. Er schaffte es kaum eine normale Unterhaltung mit einem Mann zu führen, ohne sich Gedanken über sein Verhalten zu machen oder wie dieses interpretiert werden kann. Er zerfraß sich selbst mit diesen Regeln, die niemand geschrieben hat und die sich ständig zu ändern scheinen. Doch jedes Mal, wenn er die Sonnenblume erneut betrachtete, kam ein warmes Gefühl zurück. Diese pure Seele wollte ihm nur eine Freude machen. Er hat sich keine Gedanken darüber gemacht, wie sein Verhalten ankommt und seine Gefühle auf der Zunge getragen.

Während seine Gedanken so kreisten, merkte er langsam, in was für eine Gedankenschleife er sich selbst gesteckt hatte. Eine, aus der er sich nur allein befreien konnte, denn er hat die Mauern selbst hochgezogen. Nachdem er sich in der immer heißer werdenden Mittagssonne das erste Mal in seinem Leben eingestanden hatte, das er jeden Tag lieber jemand anders werden möchte, wischte er sich die Tränen ab und stand langsam auf. Der Rückweg in die Stadt waren nur ein paar Minuten, wenn er sich beeilte und den Sunflower Boy wirklich noch erwischen wollte. Behutsam behielt er seine Sonnenblume im Auge, während er los eilte.

Der Blumenwagen war schon fast fertig eingeklappt und die Blumen verladen, als er den Marktplatz verschwitzt und leicht keuchend erreichte. Geradewegs eilte er auf die grüne Schürze zu und bevor dieser irgendwas sagen konnte, setzte er an: „Vielen Dank für die Sonnenblume, das ist erste Blume, die mir jemand schenkt. Ich weiß nicht, wie du es meintest, aber ich bin Sascha und würde gerne mit dir ausgehen." Die Hitze stieg ihm zu Kopf, als er mit schnellem Herzen auf die Antwort wartete. „Hallo Sascha, gut, dass du doch noch verstanden hast wie ich die Blume meinte! Ich war mir nicht sicher, ob ich's probieren soll. Ich bin Chris und würde sehr gerne auf ein Date mit dir gehen!" Sascha atmete erleichtert auf und ein glücklicher Gesichtsausdruck machte sich bei ihm breit.

„In den ersten Septembertagen werden die Nächte schon echt kalt, was?", sagte Chris und zog sich ein Sweatshirt drüber. „Ja stimmt, aber zum Rauchen muss ich lüften", erwiderte Sascha. Chris verzog das Gesicht „Du könntest auch aufhören", maulte er und Sasha musste grinsen. Und die Glühwürmchen flogen wie kleine Funken durch die Nacht.

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