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Annalena

Die Stunde Therapie fühlte sich ewig lang an und am Ende hatte ich das Gefühl, dass nichts passiert war. Wir hatten gar nicht über letzte Woche gesprochen, sondern lediglich über mein Leben davor. Nicht einmal die Magersucht und die Klinikzeit wurden erwähnt. In Gedanken versunken verließ ich die Praxis.
„Hey, alles okay?", fragte Wincent, als wir im Auto saßen.
„Ich weiß nicht... irgendwie... ich hab nicht das Gefühl, etwas Sinnvolles gemacht zu haben", gab ich zu.
„Schatz, das war die erste Stunde. Da lernt man sich erst einmal kennen, das ist normal. Gib dir und ihr einfach Zeit", beruhigte er mich. „Nächste Woche sieht das dann schon anders aus. Vertrau ihr einfach, okay? Sie weiß schon, was sie tut. Und wenn du unbedingt über etwas reden willst, was dir auf dem Herzen liegt, dann sag ihr das. Dafür ist sie deine Therapeutin."
„Okay", erwiderte ich leise.
Wincent kannte sich in dem Thema besser aus als ich. Die Zeit in der Klinik hatte mich einfach zu sehr geprägt, was Psychologen anging. Deshalb war ich ihm umso dankbarer, dass er mit mir gemeinsam diese Zeit bestreiten wollte. Er half mir allein dadurch, dass er mir jede Sorge nahm. Er wusste irgendwie immer eine Antwort.
Den Rest des Tages verbrachten wir mit einkaufen, einem langen Spaziergang und weiteren Filmen auf der Couch. So langsam fand ich Gefallen daran, nicht immer nur Hörspiele und Podcasts zu haben. Also, ich würde das nicht aufgeben, aber fast wie jeder andere Mensch mir einen Film anzuschauen, war einfach ein neues Gefühl. Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn als ich wieder wach wurde, saß Wincent nicht mehr neben mir. Ich hörte seine Stimme in der Küche, aber da wir eigentlich alleine waren, schien er zu telefonieren.
Leise stand ich auf und ging in Richtung Tür.
„Das klingt echt geil und irgendwie hätte ich voll Bock drauf, aber der Tag ist etwas ungünstig... Nicht, weil ich am Tag danach ein Konzert habe, aber da ist Therapie... Ich red mal mit ihr, okay?... Ich sag dir Bescheid, sobald ich etwas weiß, versprochen. Danke für die Info."
Als längere Zeit nichts mehr von ihm kam, räusperte ich mich.
„War etwas?", fragte ich.
„Hey. Gut geschlafen?"
„Ja. Mit wem hast du gesprochen?"
„Das war Mats", antwortete Wincent. „Er hat da in drei Tagen etwas geplant, eine Secret Party."
„Und du willst hin?", hakte ich nach.
„Schon irgendwie gerne. Aber da ist deine zweite Stunde Therapie", gab er zu bedenken.
„Die ist doch morgens."
Wincent kam auf mich zu und nahm meine Hände. „Ich lasse dich danach aber nicht alleine."
Ich dachte kurz nach, denn irgendwie klingelte bei mir im Gehirn etwas. „Nimm mich doch mit. Ich wollte doch eh mit zum nächsten Konzert und Mats Plan klang echt gut."
„Du weißt schon davon?", hakte er irritiert nach.
„Mats hat im Podcast davon gesprochen. Allerdings stand es noch ziemlich auf der Kippe."
„Und du würdest wirklich mit zu einer Party kommen? Kleine Wohnung, Kumpels von Mats und dann mit Mats, Topic und mir feiern. Plus anschließend zu Topics Show auf dem Festival."
„Wince, ich schaff das, wenn du dabei bist. Ich will dich nicht davon abhalten, Sachen zu tun, auf die du Bock hast", sagte ich und löste meine eine Hand aus seiner, um sie ihm auf die Brust zu legen.

Wincent

Ich sah Anna baff an. Diese Frau hatte definitiv einen Knall.
„Okay", sagte ich. „Aber du sagst sofort Bescheid, wenn irgendwas ist."
„Versprochen."
Ich gab ihr einen langen Kuss, denn Worte konnten im Moment nicht ausdrücken, was ich fühlte. Anna war einfach so viel stärker als ich und überraschte mich immer wieder aufs Neue.
Die nächsten zwei Tage machten wir nur Sachen, auf die wir Lust hatten. Da war von ein Tag Erlebnispark mit Achterbahn fahren, während Lara auf Fritz aufpasste, bis einfach nur Zuhause chillen mit Spaziergänge und abends schön essen gehen alles dabei.
Heute war es dann soweit und Annas zweite Stunde stand an. Ich wusste, dass sie mich für meinen Plan hassen würde, aber da musste sie durch. Sie war so stark, dass sie das ganz bestimmt schaffen würde. Nach einem ruhigen Frühstück machten wir uns auf den Weg zur Praxis, wobei ich meine Sporttasche in den Kofferraum geworden hatte. Fünf Minuten bevor Annas Termin begann, musste ich ihr dann beichten, was ich mir für heute vorgenommen hatte.
„Schatz, bitte brich nicht gleich in Panik aus", bat ich sie.
„Wieso? Was hast du vor?"
„Ich weiß, dass du das kannst, denn du bist unglaublich stark. Katrin ist super nett und das ist eure Zeit..."
„Wince, nein", unterbrach Anna mich. „Ich. Brauche. Dich."
„Shhh", beruhigte ich sie. „Du hast doch das Armband noch und ich bin nur fünf Minuten entfernt. Wenn es gar nicht geht, ruf mich an und ich bin sofort hier, versprochen."
„Aber..."
Ich legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Anna, du kannst das. Alles, was du Katrin erzählst, kannst du mir danach immer noch erzählen, wenn du willst. Oder du fragst sie nach einer Schweigepflichtentbindungserklärung, dann darf sie mir das auch erzählen. Ich glaube, es ist gut, wenn ihr erst einmal zu zweit redet."
„Ich weiß nicht", gab sie leise zu.
„Pass auf, ich gebe dir den hier für die Zeit", sagte ich und reichte ihr mein Schlüsselbund. „Dann hast du etwas in der Hand, bis ich wieder da bin und ohne den komme ich eh nirgendwo hin."
Anna ging die Schlüssel mit der Hand durch. Ihre Hände brauchten immer eine Beschäftigung oder etwas zum Festhalten, wenn sie nervös war. Plötzlich stoppte sie.
„Was ist das?", fragte sie und hielt einen Schlüsselanhänger hoch.
„Ein Schlüsselanhänger", erklärte ich.
„Das ist eine seltsame Form."
„Bei uns wird so das A geschrieben."
„Das A...?"
„Ja, wie in Anna. So hab ich dich immer dabei."
Was ich ihr nicht verriet war, dass an dem gleichen Ring oben noch ein kleiner Anhänger dran war. Dabei handelte es sich um ein kleines Metallplättchen, in das ein Herz eingraviert wurde.
„Und warte..." Ich suchte ein wenig und legte ihr dann einen anderen Anhänger in die Hand. „Fritz habe ich auch immer dabei."
Anna fuhr mit einem Finger vorsichtig über den Anhänger. Es war ein Hund, der wirklich ein wenig aussah wie Fritz.

Vielleicht war es ein bisschen kitschig, aber ich liebte diese beiden Anhänger

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Vielleicht war es ein bisschen kitschig, aber ich liebte diese beiden Anhänger. Wenn ich unterwegs war, konnte ich auf keinen Fall vergessen, dass Zuhause jemand auf mich wartete und das war das schönste Gefühl.

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt