Eugene nickte dem Dieb neben sich zu. »Jagt es hoch.« Ein Kratzen belegte seine Stimme und er räusperte sich. Er fühlte sich nicht wohl mit dem Gedanken, dass der Meisterdieb noch im Rabennest verweilte, doch seine Befehle waren unmissverständlich gewesen.
Ehe sein Gegenüber ihm antwortete, sprang ein weiterer Dieb auf das Dach und hastete an Eugenes Seite. Nur einen Atemzug verweilte er, um zu verschnaufen, dann brachte er hervor: »Niellen macht vor den Stadttoren eine Kutsche bereit.«
»Verdammt«, zischte Eugene. »Schafft Ihr das allein?«, fragte er dann, an den anderen Dieb gewandt.
Dieser nickte nur.
»Gut, dann kümmere ich mich um Niellen.« Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg. Er sprang von dem Dach und hastete durch die Straßen, bis er vor den Stadttoren ankam. Zwar war er noch nicht zu spät, aber langsamer hätte er nicht sein dürfen.
Niellen hielt einer jungen Frau die Tür zu einer Kutsche auf. Auf den ersten Blick hatte Eugene gedacht, dass es Aedal war, doch als er näher herantrat, erkannte er, dass sie keine spitzen Ohren, dafür aber flammend rotes Haar hatte.
Eugene knirschte mit den Zähnen und zog sein Schwert. »Niellen!«, rief er aus. Unbemerkt hätte er sich ihm ohnehin nicht annähern können.
Der Rabe stockte und wandte sich zu ihm. »Eugene?« Ein müdes Lächeln legte sich auf seine Lippen, ehe er der Rothaarigen mit einer Handbewegung andeutete, in die Kutsche zu steigen.
Ihr Blick schweifte zwischen den beiden Männern hin und her und sie kam der Geste nach.
Erst dann trat Niellen auf Eugene zu. An seinem Gürtel hingen keine Waffen und seine Kleidung war fein, keine Rüstung. »Es freut mich, dich wiederzusehen«, sagte er. »Nur hätte es mich noch mehr gefreut, wären die Umstände andere.« Sein Blick richtete sich auf die Klinge in Eugenes Hand. »Willst du es wirklich so enden lassen? Nach allem, was wir damals erlebt und durchgestanden haben?«
»Damals hätte ich dich vielleicht einen Freund genannt«, sagte Eugene und umgriff sein Schwert nur fester. »Aber damals wusste ich auch noch nicht von deinen Beweggründen. Wir hatten die Chance, die Raben ein für alle Mal auszulöschen, und stattdessen hast du sie neu aufgebaut. Warum, Niellen?« Er hatte seine Stimme nicht so erheben, hatte ruhig bleiben wollen. Lange hatte er sich in Gedanken auf diese Begegnung vorbereitet, doch nun brachen all die Gefühle von damals über ihn hinein und er konnte sie nicht lenken.
»Es wird immer Leute geben, die das Morden zu ihrem Geschäft machen«, sagte Niellen. Sein Ton blieb nüchtern. »Und es wird immer diejenigen geben, die für das Morden bezahlen. Ich kann ihnen Führung und Regeln geben. Ich ...« Er wich Eugenes Blick aus. »Ich weiß, dass es nicht die beste Lösung ist. Du kennst mich, mir wäre eine Welt ohne Grausamkeit und Tod auch lieber als das, was wir tagtäglich mitansehen müssen. Ich weiß es doch, aber ich gebe hier mein Bestes.«
Eugene schnaubte und deutete auf die Stadt, über der eine Rauchsäule aufstieg. »Das nennst du ›dein Bestes‹?«
»Ich habe nicht mit dieser Fehde begonnen. Mich kümmerten die Diebe nicht, bis sie angefangen hatten, Cyrill für sich zu beanspruchen. Ihnen stand die Welt offen, aber sie mussten versuchen, mir zu nehmen, was mir am meisten bedeutet.«
»Was dir am meisten bedeutet?«, hakte Eugene nach und biss die Zähne zusammen.
»Ich gab den Dieben ständig Chancen, einem Krieg mit mir aus dem Weg zu gehen«, sagte Niellen, ohne auf ihn einzugehen. »Und selbst jetzt weiche ich noch. Ich will nicht kämpfen.«
Etwas blitzte in Eugenes Augenwinkel auf. Niellen hob eine Hand. »Lass gut sein«, meinte er. »Es gibt keinen Grund, ihn anzugreifen.«
Eine weitere Gestalt trat aus den Schatten und in das Licht der Morgendämmerung. Den schwarzen Federn an seinem Umhang gab die Sonne einen goldenen Glanz und erhellte die Rabenmaske, die an seinem Gürtel baumelte.
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The Tale of Greed and Virtue
FantasyWie viele Frevel verlangt eine Heldentat? Ejahl, der Meisterdieb, wird eines Abends von einem alten Freund mit einem merkwürdigen Anliegen überrascht. Als außerdem noch seine Ziehtochter verschwindet, gerät er an vorderste Front des Krieges zwischen...