2. Was ich bin

83 17 7
                                    

"Na was? Beherrscht da etwa jemand nicht alle Termini?"

"Na was? Ist da etwa jemand nachtragend?" , äfft er meinen Ton nach und schiebt dabei seine, wie immer, gut bestückte Obstdose zu mir rüber. Ein eindeutigeres Friedensangenot kann er garnicht machen. Julian ist seine Obstdose heilig. Gerne greife ich bei den Apfelspalten zu, denn da ich heute morgen nichts vom Projekt wusste, habe ich natürlich nur mein übliches knappes Pausenbrot gepackt. Ich esse nie viel in der Schule, sondern genieße dann das leckere Mittagessen meiner Oma.

Wir sind nach dem Tod meines Opas zu ihr gezogen. Er fehlt uns allen. Ohne Opa ist die Welt eine andere und mit dem missglückten Neustart hat es mein Herz noch mehr zerdeppert.

"Also gut. Ich geh' davon aus pansexuell ist dir klar?"

"Du findest Menschen sexuell anziehend, unabhängig von ihrem Geschlecht. Auch ob jemand trans, non-binär oder inter ist, ist für dich dann nicht von Bedeutung."

"Genau. Das habe ich schon mit 13 Jahren festgestellt. Ich sag dir! Ich dachte ich bin abnormal! Alle um mich herum wurden aktiv, hielten Händchen, knutschten und ich wusste einfach nicht wen ich will. Ariana Grande oder Harry Stiles? Und dann fand ich auch noch einen Dragkünstler sexy. Ich wusste nicht wie ich das einordnen kann. Es war mehr als bisexuell sein. Dann kam hinzu, dass ich...", ich breche kurz ab, beiße nachdenklich auf meine Unterlippe.

"Ich urteile nicht. Versprochen. Erzähl' was du willst. Wenn du es mir nicht anvertrauen kannst, zwing' dich nicht!"

Etwas besseres hätte er nicht sagen können, um mich zu überzeugen.

"Ich hatte Probleme. Also, Jungs reden ja schon über solche Sachen. Die erste Erregung, das sich anfassen und so weiter. Ich konnte das nicht! Ich fand einige Leute anziehend, wahrscheinlich viel mehr als andere Jugendliche um mich herum. Aber es reichte nicht um meine Fantasie sexuell anzuregen. Wieder war ich am dem Punkt, an dem ich mich falsch fühlte. Als wäre ich nicht klar im Kopf. Zum Glück sind meine Eltern aufmerksam. Ihnen fiel auf, dass ich mich immer mehr zurück zog, fast schon depressiv war. Sie nahmen mich bei Seite und sprachen mit mir."

"Das war bestimmt ein hartes, emotionales Gespräch!"

"Ja. Aber ich bin mir sicher, du kennst solche Gespräche selbst. Sie waren auch verwirrt. Sie haben dann einen Therapeuten gesucht, der intensiv mit mir gearbeitet hat. Er ließ mich Menschen aus verschiedenen Kulturen, mit verschiedenen Berufen ansehen. Er spielte mir Stimmen vor, zeigte mir verschiedene tanzende Menschen. Die Menschheit ist so vielfältig!" Ich nehme einen Schluck aus meiner Trinkflasche, räuspere mich kurz. "Irgendwann in der fünften Sitzung, fragte er mich dann verschiedene Dinge. Darunter auch ob mir Klugheit wichtiger wäre, als das Idealgewicht. Oder ob ich den Oscar oder den Nobelpreis wichtiger finde. Ob meine Lieblingslieder durch das Aussehen der Interpreten beeinflusst werden. Ob ich schon einmal einen Film oder eine Serie nur wegen einem Schauspieler oder einer Schauspielerin geschaut habe. Ob es für mich einen Unterschied macht, welches Geschlecht die Lehrperson hat. Erst verwirrten mich die Fragen, doch dann wurde mir klar : ich mag Stars die durch gutes Engament und Klugheit auffallen. Ob eine Lehrperson weiblich oder männlich ist, ist mir total egal. Mir ist egal ob  ein Mann Literatur und eine Frau Mathematik unterrichtet. Mir ist wichtig, dass die Person mir was vermittelt. Bei Büchern sind die Personen in meiner Vorstellung am schönsten, die geistig was auf dem Kasten haben. In Filmen oder Serien mag ich immer die klugen Nerds und selten die zwar äußerlich attraktiven, aber sonst eher durchschnittlich intelligenten, Hauptpersonen."

"Okay. Das ist spannend!"

"Fand mein Therapeut auch. Diese Art Sexualität nennt sich sapiosexuell, von lateinisch 'sapere' was soviel wie 'weise sein' heißt. Normalerweise würde man dann aber grundsätzlich eher auf Intelligenz abfahren, sie wäre das höchste Attraktivitätsmerkmal. Ich aber bin durchaus in der Lage jemand rein körperlich attraktiv zu finden. Anziehend sogar. Aber mehr geht dann nicht. Das sexuelle Empfinden entsteht erst, wenn die Intelligenz der Person auch stimmt. Ein für andere weniger attraktiver Mensch, gewinnt für mich durch Intelligenz an Attraktivität! Daher ordnete er mich als sapio-pansexuell ein."

"Wow. Da schwimmt einem ja der Schädel!"

"Allerdings", stimme ich schmunzelnd zu und angele mir noch etwas Obst aus der Dose. "Zum Glück muss man das eher selten erklären."

"Hattest du denn schon einmal eine Beziehung?"

Noch etwas das Besonders an Julian ist. Er ist mutig genug, persönliche Fragen zu stellen.

"Mit 15 hatte ich eine Freundin aus der Oberstufe. Die Jungs sind durchgedreht, feierten das ich eine ältere Freundin hatte. Natürlich war sie sexuell reifer, doch für mich zählte einfach das sie superschlau war. Doch nach einem halben Jahr wurde es ihr zu blöd. Sie war dann schon eine Woche 18 und konnte das nicht genießen, weil ich ja nirgends mitdurfte. Bevor wir hergezogen sind, war ich in einen Jungen verschossen. Er ist jünger, hat aber eine Klasse übersprungen. Aber er ist straight, daher..." , verlegen zucke ich die Schultern.

"Tja, das war dann Pech. Also suchst du vor allen eine Stimulation für dein Hirn, bevor dein Körper reagiert. Wenn ich es so betrachte nicht verwunderlich, du bist ja auch so ein Intelligenzbolzen!"

"Ach komm, du bist auch nicht grad dumm!" Wir beide liegen meist gleichauf im Notenspiegel.

"Hmmm. Heißt das, du stehst auf mich?" , lacht er amüsiert auf. Irgendwie schmerzt mich das Lachen. Ist es absurd für ihn? Nachdem was ich offenbart habe? Oder gar, weil er nicht im entferntesten Sinne an mir interessiert ist?

"Red' kein Unsinn. Lass' uns endlich loslegen und die Medien verteilen, meine Oma braucht mich heute noch zum dekorieren!"

Julian zieht die Braue hoch, sein Gesicht wird wieder verschlossen, während er vorschlägt eine Gegenüberstellung von Einträgen queerer und hetero-cis Menschen zu erarbeiten.

---------------------------
(913)

New feelingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt