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Die Kutsche rüttelt mich durch, während wir von dem riesigen Haus wegfuhren, in welchem ich unfreiwillig die letzten Monate meines knapp 18 Jährigen Lebens verbracht hatte. Von aussen sah sie schön aus, wie ein altes Herrenhaus, auf einer grossen Lichtung, umgeben von einigen kleinen Hütten mit rauchenden Schornsteinen, wiederum umgeben von tiefem, dunkeln Wald. Zum Glück waren Alaya und ich nie so dumm gewesen, wegzurennen. Wir hätten ja nicht gewusst wohin. Und ich wusste nicht, was in dieser Welt noch für Gefahren lauerten. Die Bäume sahen aus wie die in meiner Welt, zumindest die meisten. Wir fuhren auf einem breiten und nur mässig stabil gepflasterten Weg durch den Wald. Ab und zu huschten unerkennbare Dinge auf dem Moosbewachsenen Waldboden herum, den ich aufmerksam beobachtete. Manchmal schwirrte etwas in der Luft herum und immer wieder erklangen wunderschöne aber auch verwirrende Klänge, die ich so in meinem Leben noch nie gehört hatte. 
Neben mir sass Alaya, gekleidet in ein prächtiges, violettes Kleid. Sie starrte geradeaus auf den leeren Platz neben Azaar, der sich etwas zusammen kauern musste, um in der Kutsche Platz zu finden.
„Du solltest diesen Klängen niemals folgen, Mensch. Sie sind dein Tod."
Meinte er, während er mich aus seinen kleinen Knopfaugen beobachtete. Ich antwortete ihm nicht und sah stattdessen weiter aus dem Fenster. In den fünf Monaten, in denen wir hier gewesen sind, war ich nicht einmal draussen gewesen. Meine Füsse vermissten das nasse Gras und meine Haare vermissten den starken Wind, wenn er mit ihnen spielte. Mehr als alles andere jedoch, vermisste ich die Wärme der Sonne auf meinem bleichen Gesicht.
Es war vor fünf Monaten geschehen. Alaya und ich hatten uns von unseren Freundinnen verabschiedet. Wir waren Bowlen und hatten anschliessend im Diner daneben fettige Pommes und saftige Burger verputzt. Wir hatten uns beieinander eingehakt und plauderten über den einen Jungen, den ich toll fand. Garrick. Ein ganz normaler Junge, der mit mir zur Schule gegangen war und mir ab und zu Mathe-Nachhilfe gegeben hatte. Alaya hatte mir Tipps gegeben, wie ich mit ihm hätte flirten sollen. Tipps, die wir zuhause nicht bekamen. Unsere Mutter war streng gläubig, eine Vorreiterin ihrer Religion, wie sie die anderen Mitglieder ihrer Gemeinschaft nannten. Es schienen dabei alle vergessen zu haben, dass sie gleich zwei uneheliche Töchter von einem Mann bekommen hatte, der sie anschliessend verlassen hatte und sie nicht einmal finanziell unterstützt hatte. Nichts desto trotz hatte sie uns streng und dennoch gütig erzogen. Und von jeglichen romantischen Engagements mit jungen Männern hatte sie abgeraten. Kein Junge hatte jemals unser Haus betreten. Ich hatte sogar darum kämpfen müssen, mich alleine mit Garrick in der Schule für die Nachhilfe zu treffen. Manch einer in der Schule dachte wahrscheinlich, dass wir merkwürdig waren. Auch ich wurde mit den meisten Menschen um mich herum nie wirklich warm. Aber Alaya hatte das Talent, mit allen Freundschaften zu schliessen. Ich war mir sicher, dass ihre Schönheit ihr dabei half. Und da ich ihre kleine Schwester war, nahm sie mich mit. Und da ich auch hübsch war, wurde das akzeptiert. So jedenfalls hatte ich es mir erklärt. Aber in dieser einen Nacht hätte ich gewünscht, dass wir ein einziges Mal auf unsere Mutter gehört hätten. Sie hatte uns vor dunkeln Gassen gewarnt. Von Gestalten, die dort ihr Unwesen trieben und junge hübsche Mädchen wie uns verschleppen wollten. Und genau das war passiert. Nur nicht auf diese Art, wie es unsere Mutter wohl befürchtet hatte. Meine Arme Mommy...sie musste krank vor Sorge gewesen sein. Ich hatte genug Krimis gesehen, dass mir klar war, dass Alaya und ich unterdessen als Tot eingestuft wurden. Fast niemand kehrte nach fünf Monaten unversehrt zurück. Es brach mir das Herz, wenn ich daran dachte, dass meine Mutter zwei leere Särge hatte begraben müssen. Aber ich war auch erleichtert, dass sie in Sicherheit und behütet von ihrer Gemeinschaft ihr Leben weiter leben durfte. Fernab von all diesem Horror. Und wenn alles nach Plan lief, würden meine Schwester und ich ihr bald wieder Gesellschaft leisten können.
Ich hob das Kinn um mir selbst Mut zu machen.
Alayas Hand, eingekleidet in einen weissen Samthandschuh, lag auf meiner. So wussten wir beide, dass die andere da war. Die Fahrt verlief grösstenteils schweigend und ich versuchte, mir die Dörfer und Städte, an denen wir vorbei fuhren so gut es ging zu merken. Ich ordnete ihnen eine Form zu: Zuerst kam eine kleinere Stadt, die in der Form eines Wassertropfen aufgebaut war, danach ein Dorf das sich wie ein Schmetterling um einen Fluss angeordnet hatten. Die Kutsche ruckelte, als wir das fliessende Gewässer überquerten. Weiter ging es mit einer unendlichen Landschaft an bewirtschafteten Feldern, noch mehr Wald und noch vielmehr kleine Dörfer, die alle keine wirklichen Formen hatten und wahrscheinlich nur als kleine Siedlungen zählten. Es dauerte fast einen ganzen Tag, bis wir die Hauptstadt erreichten. Und das, obwohl die vier weissen Pferde, die die Kutsche zogen, unermüdlich galoppiert waren. Ein Wunder, dass sie nicht tot umgefallen waren.
Jetzt hatten sie verlangsamt, und nachdem ein kritischer Soldat das Innere unserer Kutsche durchsucht hatte und auch meinen menschlichen Ohren einen kritischen Blick zugeworfen hatte, durften wir durch das riesige Tor Einlass in die Stadt finden. Auf der Spitze des riesigen Hügels befand sich das Schloss, darunter sammelten sich die Gebäude eng aneinander, als wollten sie alle so nahe am Schloss sein, wie irgend möglich. Je weiter sie sich den Hügel hinunter erstreckten, desto weniger Häuser fanden sich, bis sie sich irgendwann mit den angrenzenden Wäldern vermischten und dann verschwanden. Das grosse Tor und die Hauptstrasse, die direkt zum Schloss hinauf führte, gab es aber trotzdem. Es wirkte wie im Märchen, genauso hätte ich mir eine wohlhabende Stadt in Dornröschen vorgestellt. Ich sah wenig Armut, als wir die Strasse entlang fuhren und das Volk immer wieder vereinzelte, neugierige Blicke in unsere Kutsche warf. Diese Stadt schien sehr wohlhabend zu sein. Den Menschen....den Wesen ging es gut und es lag ein hypnotisierendes, lebendiges Surren in der Luft.
Als unsere armen Pferde, die vor Schweiss glänzten, die Kutsche bis ganz nach Oben vor die Schlosstore gezogen hatten, stiegen wir aus. Ich zuerst, meine schwarzen Stiefel passten zu dem braunen und wenig auffälligen Leinenkleid, über das ich eine weisse Schürze trug, die an meinem Nacken und an meinem unteren Rücken zusammengebunden war. Alaya hatte Mühe, in ihrem prächtigen Kleid aus der engen Kutsche zu kommen. Ich half ihr, so gut ich konnte.
„Es starren uns alle an", flüsterte sie unruhig und klammerte sich an meinen Arm.
Es stimmte. Es wurde getuschelt, mit den Fingern auf uns gezeigt und gerätselt, wer wir waren.
„Eine ungewöhnliche Kombination. Eine Konkubine und ein Dienstmädchen gingen in den Palast...das könnte der Anfang eines richtig schlechten Witz sein", begrüsste uns Killians Stimme fröhliche Stimme. Das Wiesel nahm uns in Empfang, als wir von den Wachen eingelassen wurden. Azaar lief hinter uns her, als müsste er sicher gehen, dass seine Ware auch das Ziel erreichte. Wahrscheinlich war er nur noch hier, weil er auf seine Bezahlung wartete.
Als weder Alaya noch ich lachten, seufzte das Wiesel resigniert und winkte uns kurz zu.
„Na gut, einen Versuch war es wert. Mir nach. Ihr werdet erwartet."
Er trug enge lederne Hosen und ein weites, oranges Hemd, welches mit Kristallen bestickt waren, die zusammen die Anordnung einer Klinge ergaben. Eine schwarze Jacke hatte er sich locker über eine Schulter gehängt.
Ich bemühte mich, mit ihm Schritt zu halten und konnte nicht anders, als den prächtigen Palast hier von innen zu bestaunen. Die Decken, die unglaublich hoch waren, bestanden aus Kristall, sodass man direkt in den Himmel sehen konnte. Grüne Pflanzen rankten sich hie und da über die gläsernen Kuppeln und der tiefschwarze Boden, der mit silbernen Linien durchzogen war, saugte alles einfallende Licht auf, wodurch die Linien noch heller zu strahlen schienen. Überall gab es Fenster an den Mauern, behangen mit silbernen Gardinen, die so schwer schienen, dass ich mir erdrückt vorkam. Unsere Schritte hallten, gingen aber im regen Treiben der Menge an Bediensteten, Gästen und Bewohnern unter. Ich versuchte, einzelne Gespräche im Wirrwarr der Stimmen auszumachen, doch das war nahezu unmöglich. Die Menge machte brav Platz, wenn Killian hindurch schritt und ich fragte mich, ob er auch ein Prinz war. Elowin und Dorian, die Brüder, mussten zwangsläufig beide königlichen Geblüts sein. Aber Killian sah nicht aus wie sie und ein Prinz hätte uns wohl auch nicht bei den Palastmauern abgeholt.
Überall zweigte sich ein Wirrwarr von Gängen ab, wir folgten dem Wiesel jedoch geradeaus, geradewegs auf zwei riesige Flügeltüren zu, die mehrere Meter in die Höhe ragten, silbern und verziert mit allerlei farbigen Steinen, von denen ich stark vermutete, dass sie verdammt wertvoll waren.
Wenn ich mit Alaya hier verschwinden würde, mussten wir sichergehen, dass wir einige wertvolle Dinge klauten, die wir in unserer Welt zu Geld machen konnten.
Die Türen wurden von zwei Wachen langsam aufgestossen und während Treppen und Gänge überall nach links und rechts abzweigten, war der Saal, der vor uns lag, ein einziger Raum, der so gross war, dass vermutlich unser ganzes Haus hinein gepasst hätte. Also fünfmal unsere Mietwohnung, in der wir zu dritt wohnten.
Die Kuppel war dieselbe wie auch überall sonst, aber lange silberne Lianen hingen wirr von der Decke, die sanftes und helles Licht ausstrahlten. Gerade schienen die Vorbereitungen für ein Bankett zu laufen, denn es wurden fünf Reihen an langer Tische aufgestellt, gemeinsam mit hölzernen Bänken. Überall schwebten Wesen herum, die Kerzenständer und Tischgedecke mit sich schleppten. Killian durchquerte sicheren Schrittes die mindestens zweihundert Meter bis nach Vorne, wo ein grosser Thron stand. Dahinter vier kleinere. Sie waren alle leer.
„Ah, da bist du ja. Lass dich ansehen", Elowin schritt aus einer Ecke hervor, in der er gerade mit einem Gnom mit einer weissen Mütze diskutiert hatte, der eine Art Kochbuch in den dünnen Händen zu halten schien.
Alaya versank in einem tiefen und ehrfürchtigen Knicks, wie Sonja es ihr beigebracht hatte. Ich blieb stehen. Versuchte es zumindest. Aber Azaar war noch da und packte mich am Nacken, dann drückte er mich mit einer unglaublichen Kraft auf die Knie.
„Mein Prinz. Es ist eine Freude, euch zu sehen."
Meine Schwester log ausgezeichnet, anders als ich, und das kam uns nun zugute. Ich nicht, ich trug mein Herz eigentlich schon mein Leben lang auf der Zunge. Einer der feinen Unterschiede zwischen uns. 
Erstaunlich sanft half ihr Elowin wieder auf die Beine und legte einen Finger unter ihr Kinn. Er begutachtete sie kurz, dann nickte er zufrieden.
„Danke Azaar, dass du sie mir heil übergeben hast. Deine Belohnung wurde bereits in deine Kutsche übergeben."
Elowin nickte Azaar gnädig zu, der sich entlassen fühlte und mit einem letzten abschätzigen Blick auf mich den Rückzug antrat. Sofort erhob ich mich wieder und hob den Kopf, meine Wangen gerötet mit Scham. Mein Blick traf auf den von Dorian, der mit einem Becher in der Hand an die Wand gelehnt stand, neben ihm eine bildhübsche Feen-Frau, die mit ihrem bezaubernden weissen Lächeln seine Aufmerksamkeit zu erhaschen suchte. Sein Blick war nichts sagend, gelangweilt. Dennoch liess er nicht von mir ab. Ich versuchte, zurück zu starren, aber Elowin trat nun in mein Sichtfeld und musterte mich.
„Sonja hat dich entsprechend auf deine Rolle vorbereitet. Sei eine Dienstmagd und denke nicht einmal daran, deine Schwester zu belästigen. Sie ist jetzt ein Teil des königlichen Hofes. Und du wirst sie so behandeln."
Ich presste die Lippen zusammen und mein Blick huschte zu Alaya. Ich sah Besorgnis in ihren Augen, aber sie nickte mir zu. Als müsste sie mich an unsere Abmachung erinnern, die wir in der letzten Nacht zu zweit getroffen hatten. Ich musste meinen Part spielen, so wie sie ihren. Und meiner war der deutlich einfachere. Also nickte ich nur und starrte auf den Boden.
„Sehr gut. Alaya, du wirst dem Hofe bei der heutigen Feier vorgestellt. Zenya, Irma wird dich einweisen in...was auch immer."
Er machte eine wegwischende Handbewegung und damit war ich entlassen. Irma? Sie war hier?
Ich sah mich um und entdeckte den Goblin an der Türe rechts neben dem Plateau, auf dem die Throne standen. Ich eilte zu ihr. Es war dumm, mich zu freuen, aber sie war das einzige Gesicht hier, das ich kannte und das nicht immer nur unfreundlich zu mir gewesen war. Traurig, wie weit ich schon gesunken war. 
„Was tust du hier?"
Sie zuckte die schmalen Schultern und warf mir einen Blick aus den unheimlichen, tiefschwarzen Augen zu.
„Beförderung. Azaar schickt uns immer mit seinen verkauften Mädchen mit. Das war von Anfang an meine Aufgabe. Er hat mich dem Prinzen gegeben. Genauso wie dich."
Ich kniff die Augen zusammen.
„Du meinst ihr spioniert für ihn die Orte aus, an die er seine gestohlenen Frauen verkauft."
Ein feines Lächeln umspielte ihre dünnen Lippen.
„Du bist ein kluges Mädchen."
Dann drehte sie sich um und ging durch die Türe. Ich bemühte mich, nicht nach links zu sehen. Es war mir egal, ob der andere Prinz dort noch immer stand oder nicht. Kurz linste ich doch hin. Aber der Platz war leer. Ein erster Schritt war immerhin schon getan. Azaar waren wir los. Ich konnte jetzt damit beginnen, einen Ausweg zu finden.

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