Geräuschlos schwingen die beiden Flügel der Tür auf. In einem Schreiben versunken, das vor ihm auf dem Pult liegt, hat Thrór, König unter dem Berg, Herrscher über das Zwergenreich Erebors und Erbe von Durins Thron, es nicht bemerkt. Erst, als eilige Schritte im hohen Thronsaal widerhallen, blickt er auf und wendet sich dem Besucher zu. Es ist Thorín, der wie jeder andere Bittsteller auch, in angemessenem Abstand stehenbleibt und respektvoll das Haupt neigt.
»Du wünschst eine Audienz?«, fragt der König überrascht und winkt den Sohn seines Sohnes näher. »Balin hat dich nicht angekündigt.«
Thorín folgt der Aufforderung. »Er wusste nichts davon, da ich mich selbst auf die Liste gesetzt hatte. Unter einem anderen Namen«, setzt er mit einem Augenzwinkern hinzu.
»Aber warum diese Heimlichtuerei? Du hättest mich auch einfach besuchen können. Du weißt, dass meine Tür für dich und deine Geschwister immer offen ist.«
»Es geht um sie und wenn sie wüssten, dass ich dich besuchen will, würden sie sofort an meinen Hacken hängen«, gibt der junge Zwergenprinz zu und schweigt dann für einen Moment, bevor er zu sprechen beginnt. »Der Durinstag ist längst verstrichen und Dís und Frín sorgen sich, dass der nächste Märchenabend erst wieder im nächsten Winter sein wird. Oder auch im Sommer. So wie in diesem Jahr. Eine lange Zeit für ungeduldige Zwerglinge.«
Die Hände auf dem Rücken, den Blick auf die Saalkuppel weit über ihm gerichtet und die Unterlippe nachdenklich vorgeschoben, schaukelt der König von den Fersen auf die Zehen und zurück.
Nach einigem Hin und Her schüttelt er die Schaukelei und die Haltung ab. »Nun«, sagt er. »Ich habe noch Einiges mit Balin zu besprechen und auch mit Nár muss Manches geklärt werden. Trotzdem: Kommt heute Abend. Zu einem kleinen Plausch, kannst du den beiden Sorgenfalten sagen.« Er sagt es liebevoll und ebenso ist das Lächeln, mit dem er Thorín bedenkt.
»Großvater, ich will nicht, dass du all deine Pläne und Termine durcheinander bringst, nur um uns einen Gefallen zu erweisen, der dir am Ende ein großes Mehr an Arbeit macht. Ich...«
Thrór schneidet mit einer heftigen Handbewegung seinem Enkel das Wort ab. »Sprich nicht weiter Junge! Wenn ich es nicht wollte, würde ich es nicht tun. Der Winter bringt nur immer zu viel, was zu bedenken ist und was man nicht außer Acht lassen darf. Jedes Jahr aufs Neue«, setzt er mit einem tiefen Seufzen hinzu und lächelt schelmisch. »Als wäre es der erste Winter, den wir erleben.«
»Ich wollte dir nur von ihren Sorgen erzählen, bevor es von anderer Seite kommt.«
Das Lächeln schwindet. »Welcher Zwerg sollte das Tratschweib sein?«
Thorín blickt auf die Spitzen seiner Stiefel hinab. »Vater«, murmelt er leise.
»Wer?« Thrór schleicht näher, die Ohren gespitzt wie die eines lausigen Elben.
»Vater«, wiederholt Thorín nun lauter, auch wenn es noch immer ein genuscheltes Murmeln ist.
»Thraín?«, fragte der König aufgebracht. »Was interessiert ihn, worum ihr euch sorgt? Das ist ja mal etwas ganz Neues! Wenn es sich um die Standhaftigkeit von Stützen und erschwertem Vortrieb von Stollen handelt, kann ich es verstehen. Dafür lässt er alles stehen und liegen. Aber euch hat er bisher nur beachtet, wenn es ihm in den Kram passte.«
»Er war auch schon bei einem Märchenabend dabei!«, verteidigt Thorín seinen Vater, erntet jedoch ein lautes Schnauben und eine wegwerfende Handbewegung.
»Einen Abend!« Trauer und Zorn wüten gleichermaßen im König und lassen seine Augen funkeln. »Aber reden wir nicht mehr davon. Es gibt Wichtigeres im Leben, als Ärger und Arbeit«, setzt er nach einem tiefen Atemzug hinzu. »Also kommt heute Abend, nach dem Nachtmahl.«»Großvater!« Dís kommt ins Gemach getanzt. Warme Pantoffel an den Füßen und gekleidet in einen Hausmantel, dessen Kragen bis an ihre Ohren reicht und der Saum ihre Zehen berührt. Ganz damenhaft verharrt sie vor ihm, macht einen Knicks und im nächsten Moment hat sie ihm die Arme um den Hals geschlungen. »Thorín hat gesagt, du willst uns sehen. Warum?«
»Muss ich einen Grund haben, euch sehen zu wollen?« Thrór erwidert die Umarmung, bevor er sie von sich schiebt.
Frerín verbeugt sich vor dem König und auch vor Nár, der an Thrórs Seite getreten war. »Deine Zeit ist kostbar. Wir wissen das.«
»Dann lasst uns den Abend genießen«, erwidert Thrór und auf einen Zeichen seines Gefährten hin, geht die Tür zum Nebengemach auf. Heraus tritt Boran mit einem Tablett, gefüllt mit Schalen und Schälchen. Ihm folgt Goran, der einen Wagen vor sich her schiebt. Das Klirren von Gläsern ist zu hören und der gedämpfte Ton von Bechern, die auf dem Wagen gedrängt stehen, neben weiteren Schalen voller Obst.
Aufgeregt klatscht Dís in die Hände. »Ist es das, was ich denke, Großvater?«
Thrór lacht. »Was denkst du denn?«
»Märchenabend.« Ihre Augen leuchten und ihre Zöpfe, an deren Enden kleine Schleifen sitzen, schwingen auf und ab.
Im selben Moment öffnet Nár die Tür zu den Fluren des Erebors und ein Schar Bediensteter bringen Kissen und Decken. In Windeseile wird der Kissenberg aufgeschüttet und im Kamin das Feuer angeschürt, das es heller brennt als ein Schmiedeofen.
Innerhalb kürzester Zeit sieht das Gemach aus wie an den winterlichen Märchenabenden der vergangenen Jahre. Einladend, gemütlich, heimelig.
Auffordernd deutet der König unter dem Berg auf den Kissenberg und auch Boran und Goran werden nicht vergessen.
Prompt werden die beiden Zwerge rot. »Zu großzügig, mein König.« Respektvoll neigt Goran den Kopf. »Aber nur weil wir die große Ehre hatten, an den letzten Abenden dabeisein zu dürfen, müsst Ihr uns nicht wieder dazu bitten. Es ist ein Familienabend und dabei wollen wir nicht stören.«
Nár klopf dem Zwerg auf die Schulter und auch sein Bruder bekommt seinen Teil. »Wenn mein Liebster nicht wollte, würde er nicht so etwas sagen. Also eilt, sucht euch einen Platz zum Lümmeln und Zuhören.«
Das lassen sie sich nicht ein weiteres Mal sagen und bedienen sich ebenso an dem Gebäck und Zuckerwerk, wie es die Zwerglinge tun. Nár reicht Becher mit heißer Schokolade an und für den König, der bereits das Märchenbuch auf dem Schoß zu liegen hat, bereitet er einen Becher mit heißen, gewürzten Wein.
»Ich habe mich für ein kurzes Märchen entschieden, das ich euch erzählen möchte«, sagt Thrór und schlägt den Folianten auf, dessen Goldschnitt im Feuerschein schimmert. »Ein sehr kurzes, bei dem ihr mir gern wieder mit Namen weiterhelfen könnt.«

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Der Erbsenprinz - oder: 20 Matratzen sind übertrieben. Eine reicht vollkommen.
FanfictionÄußerst kurzfristig lädt der König unter dem Berg, der ehrenwerte und hochgeschätzte Thrór zum Märchenabend. Wirklich sehr überraschend. Dís und Frerín sind vollkommen begeistert. Gemeinsam machen sie es sich vor dem Kamin auf dem Kissenberg gemütli...