An diesem Abend tat ich etwas, von dem ich nicht im Traum gedacht hätte, es jemals zu tun. Ich schrieb einen Brief an Azaar. Es stand ausser Frage, dass ich ihn aus tiefstem Herzen für das verabscheute, was er Alaya und mir angetan hatte. Dass er uns entführt und aus unserem normalen, friedlichen Leben gerissen hatte. Dass er uns in eine Welt gebracht hatte, von deren Existenz ich nichts gewusst hatte, was mich die ersten zwei Monate hier fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Ja wirklich, ich hatte mich gefragt, ob ich mich auf irgend einem höllischen Trip befand. Leider musste ich irgendwann einsehen, dass ich mich mit der Realität konfrontiert sah. Und ich hasste ihn dafür, dass unsere Mutter im vergangenen halben Jahr Höllenqualen hatte erleiden müssen. Ihre Töchter zu verlieren, von einem Tag auf den anderen. Ich konnte nur hoffen, dass sie in ihrem Glauben, für den ich nie viel übrig gehabt hatte, ihren Trost fand. Und ich hasste Azaar auch dafür, dass er mir meine Mutter genommen hatte, die ich nämlich unglaublich vermisste.
Und trotz all dieser Gründe, lohnte es sich dieses eine Mal vielleicht, einen Pakt mit dem Teufel einzugehen. Denn Azaar kannte den Weg von dieser Welt in die meine, das war klar. Und trotz meines Lauschens und meiner Recherche, hatte ich noch von keinem andern gehört, der den Weg sonst noch kannte. Also hatte ich keine andere Wahl, als mich an ihn zu wenden. Ich musste ihm nur etwas anbieten, das ihn dazu bringen konnte, mir den Weg zu verraten, oder mich und meine Schwester zumindest wieder zurück zu schaffen.
Als ich die Worte auf das leicht gelbliche Papier niederschrieb, das nach Veilchen roch, packte mich das schlechte Gewissen. Ich bat den Ork nur darum, meine Schwester und mich wieder zurück zu bringen. Von anderen Mädchen, die er in der Vergangenheit verschleppt hatte, oder die er in Zukunft noch rauben würde, davon redete ich nicht. Denn sie waren nicht wichtig genug. Ich war nunmal ein egoistischer Mensch. Ausserdem würde ich Azaar niemals davon überzeugen können, sein Handwerk gänzlich einzustellen. Um mein miserables Gewissen zu beruhigen, redete ich mir ein, dass es wahrscheinlich nicht all zu viele sein konnten, denn hier bei Hofe war mir noch kein anderer Mensch begegnet. Da waren nur Alaya und ich. Und hoffentlich auch wir bald nicht mehr.
Am kommenden Morgen schmuggelte ich den Brief auf den Poststapel, den Samira, ein Goblin, der Irma meiner Meinung nach zum Verwechseln ähnlich sah, jeden Tag pünktlich bei Sonnenuntergang auf einem versilberten Wagen quer durch die Gänge schob. Von links und rechts hagelte es dann Korrespondenzen von den Zimmern. Ich war erstaunt, dass die Briefe, die nicht selten von wichtigen Köpfen bei Hofe geschrieben wurden, nicht besser beschützt wurden. Ein Spion hätte sicherlich ein leichtes Spiel, um an Informationen zu gelangen. Ich sah Samira zu, wie sie das Wägelchen langsam den Gang hinunter schob, der sich so lange zog, dass mein menschliches Auge alles nur noch verschwommen ausmachen konnte, was sich am Ende befand.
Ein Spion. Ich war zwar kein Spion, aber vielleicht würde ich in irgend einem der Briefe einen Glückstreffer landen und etwas zur Menschenwelt lesen? Aber niemals könnte ich eine solch grosse Menge an Briefen ungestört öffnen, dann wieder verschliessen und zurück legen. Samira übergab das Wägelchen am Palasteingang jeweils zwei Wachen, welche die Briefe in schwere, metallene Kisten umfüllten und sie dann auf eine Kutsche hievten, die damit in die Stadt hinunter fuhr. Keine Ahnung, wie es von dort aus weiter ging. Also ein schlechter Plan.Ich arbeitete den Rest des Tages in schweigendem Einklang mit Aleera, unser Putz-Duo hatte sich unterdessen eingespielt und wir unterhielten uns sogar ab und an. Es war eine angenehme Stimmung, immer wenn wir zusammen waren. Ich mochte sie wirklich. Sie schien ein gutes und ehrliches Herz zu haben. Falls Elfen ein Herz hatten. Ich vermutete schon.
Als die Sonne endlich unterging und die Dunkelheit den Palast umgab, leerte ich den letzten Eimer mit Schmutzwasser weg und war froh, dass ein weiterer Tag vergangen war, an welchem ich weder Kira noch einem ihrer Anhänger begegnet war.
Obwohl meine Glieder von dem strengen Tag schmerzten, zwang ich mich, in den Festsaal zu schlendern, der gleichzeitig auch täglich als Speisesaal diente. Das Abendmahl war bereits beendet, was bedeutete, dass es hie und da noch allerhand leckere Speisen abzusahnen gab.
Mein Blick ging zu den leeren Thronen, die alle massiv und kalt auf der Anhöhe standen. Sie alle schienen aus purem Silber zu bestehen und ihre Lehnen schienen aus geflochtenen Silberfäden zu bestehen. Mit dem Untergrund waren sie irgendwie verschmolzen, als hätte irgendjemand den Palast und seine Herrschersitze zusammen geschweisst. Gerändert waren sie alle mit den prächtigsten weissen Kristallen und blauen Perlen. Schade, dass ich so einen nicht mit in meine Welt nehmen konnte. Es hätte sich damit sicherlich ausgesorgt gehabt.
Ich wich einer Bediensteten aus, die gerade ein Tablett mit Käse-Tarts an mir vorbei trug und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Es gab nicht viele Tage, an denen ich Apetit hatte. Das war schon so, seit ich hier angekommen war. Aber heute rumorte mein Bauch ungeheuerlich.
„Entschuldige, darf ich mir davon zwei Stück nehmen?"
Die Bedienstete drehte sich um und musterte mich kurz genervt. Als sie bemerkte, dass ich dieselbe Kleidung trug, hellte sich ihre Miene jedoch auf und sie nickte. Dabei glänzten ihre dunkelblauen, feinen Hörner leicht, die ihr seitlich am Kopf elegant gebogen aus dem Schädel wuchsen. Passend zu der Ozean-blauen Haut, die von schwarzen Sprinkeln geprägt war. Es erinnerte mich an Sommersprossen. Sie war ein Dschinn, wenn ich mich nicht irrte. Mit ihren spitzen, schwarzen Nägeln angelte sie zwei Stück des noch lauwarmen Essens in meine Hände und ich lächelte dankend.
„Vielen Dank!"
Als Antwort ging ein helles Schimmern durch ihre schwarzen Augen, dann verschwand sie.
Genüsslich schob ich mir den einen Käse-Tart in den Mund und kaute. Vielleicht war einer der Gründe, wieso ich hier so wenig ass dieser, dass das Essen so viel besser schmeckte, als in meiner Welt. Egal was ich hier ass, es schmeckte lebendiger, erfrischender. Käse? Cremiger. Fleisch? Saftiger und kräftiger und gleichzeitig so zart. Brot? Luftiger und so viel nahrhafter, gespickt mit Nüssen, die mir bisher noch nie begegnet waren. Früchte? Davon wollte ich gar nicht erst anfangen...
Ich lehnte mich an die Wand zwischen zwei Gemälden irgendwelcher Fürsten oder Adligen und genoss mein Essen, während ich den wenigen Gästen zusah, die noch zu beschwipst waren, um den Ausgang aus dem Labyrinth an Tischen zu finden. Hier war jeden Abend Party. Nicht in dem Ausmass, wie bei der Geburtstagsfeier des Königs, aber dennoch.
„Ihr riecht köstlich nach Mensch. Darf ich euch nach eurem Namen fragen, my Lady?"
Ertönte auf einmal eine Stimme neben mir und ich fuhr erschrocken zusammen. Ich war mir sicher, dass der schmale Mann, der gerade in mein Sichtfeld trat, zuvor noch nicht da gewesen war.
Ich seufzte.
„Ich bin keine Lady. Und ich heisse Zenya."
Merkwürdige Unterhaltungen war ich mir unterdessen gewöhnt. Er war wahrscheinlich einer dieser Gäste, die gerne mit Dienstmädchen flirteten, in der Hoffnung eine Kammer zum Übernachten zu finden. Das war hier so Gang und Gäbe, hatte mir Aleera erzählt.
„Ein wunderbarer Name."
Der dünne Mann legte sich einen Finger auf die dünnen Lippen, um die herum schütteres silbernes Haar spriesste. Sein Nagel sah alles andere als gesund aus und ich musste mich zusammen reissen, damit mein Gesicht meine Gedanken nicht widerspiegelte. Eine Gabe, um die ich die Elfen zu beneiden gelernt hatte. Sie zeigten keine Gesichtsausdrücke, die sie nicht auch zeigen wollten.
Die eisblauen Augen des Mannes starrten mich geradezu nieder. Sie waren umringt von einem leicht gelblichen Weiss, die Adern standen in einem kräftigen Rot heraus.
„Ihr solltet lieber mehr Schlaf geniessen, als Wein", rutschte es mir heraus, als mir der alte Mann mit den zerzausten Haaren ins Gesicht atmete und ich den unverkennbar süssen Geruch ausmachen konnte. Er schnaubte belustigt.
„Das mag ich so an euch Menschen. Eure Ehrlichkeit. Und euer Blut."
Jetzt verzog ich den Mund dennoch.
„Oh, verzeiht, my Lady. Ich vergass, meine eigene Wenigkeit vorzustellen, so betört war ich von eurem Duft..."
Der Mann verbeugte sich tief und es war ein Wunder, dass ich seine greisen Knochen nicht knacksen hören konnte. Während seiner Verbeugung fiel ihm die weisse Kapuze ins Gesicht, die zu seinem weissen Gewand passte. Es erinnerte mich etwas an eine Mönchskutte. Von seinem Hals baumelte an einer einfachen Schnur eine Ampulle, gefüllt mit einer roten Flüssigkeit.
„Mein Name ist Avar."
Mit einem Blick auf meine runden Ohren schon er sicherheitshalber noch hinterher: „Ich bin Hexer und stets zu Diensten."
Ich versuchte ein Lächeln, hätte ihm allerdings am liebsten an den Kopf geworfen, dass ich in Ruhe mein Abendessen geniessen wollte und danach zu meiner Schwester gelangen wollte.
„Ein zuvorkommendes Angebot."
„Nicht wahr?"
Seine Augen funkelten wissbegierig.
„Und ich habe noch ein viel besseres Angebot für euch, Mensch."
Ich hob die Brauen. Dann waren wir also schon an diesem Punkt angelangt. Normalerweise dauerten die höflichen Austausche länger, bevor sie mich nach einem Platz in meinem Bett fragten. Die Wesen hier verfolgten komische Bräuche.
„Und das wäre?"
„Gebt mir euer Blut und dafür gewähre ich euch einen Wunsch."
Wow. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich blinzelte.
„Mein Blut?"
Wofür würde er wohl Menschenblut benötigen? Für eine zweite hässliche Ampulle wie diejenige um seinen Hals? Für ein satanisches Ritual?
Ich verschränkte die Arme und wollte ihm schon eine harsche Abfuhr verpassen, als ich zögerte. Er war ein Hexer. Er musste also Magie besitzen. Und somit wäre er wahrscheinlich neben Azaar wirklich der Einzige, der in der Lage wäre, mir zu helfen.
„Einen Wunsch, sagt ihr."
Überlegte ich laut und trat etwas näher.
„Egal welchen? Seid ihr in der Lage, mir absolut jeden Wunsch zu erfüllen?"
Ein grässliches Lachen entfuhr ihm und jagte mir einen Schauer über den Rücken.
„Ihr unterschätzt mich, my Lady. Ich mag alt sein, aber ich bin bewandert in der Kunst der Magie. Und ich sehe, dass euch ein Wunsch plagt. Ich kann euch versprechen, gebt mir euer Blut und euer Wunsch wird wahr werden."
Ich kniff die Augen zusammen.
War es idiotisch, das Angebot tatsächlich in Erwägung zu ziehen?
„Und wofür bräuchtet ihr mein Blut?"
Der Hexer spielte mit seinen knorrigen Fingern.
„Euer Blut wäre meins. Manch einer fragt nicht nach dem Zweck des Besitzes eines anderen."
Als ich ihn verständnislos anstarrte öffnete er erneut den Mund, wurde aber von einer eisigen Stimme unterbrochen.
„Nein. Mit ihr redet Ihr nicht. Sie gehört mir."
Im selben Moment fühlte ich seinen warmen Körper an meinem Rücken. Dorian. Erbärmlich, dass ich an seinem Geruch erkannte, dass er es war. An der Hitze, die seine minimale Berührung in mir auslöste. Und das, obwohl ich heute mit Sicherheit keine Erdbeere gekostet hatte.
Der Blick des Hexers wanderte über meinen Kopf hinweg immer weiter hoch. Ehrfurcht erfüllte seine Augen und er sank in eine noch tiefere Verbeugung. Noch etwas weiter nach unten, und er hätte seine eigenen Stiefel küssen können.
„Mein Prinz, verzeiht. Ich wusste nicht..."
„Offensichtlich nicht. Ihr solltet es besser wissen, als eine Lady beim Essen zu stören."
Dorians volle Lippen verzogen sich zu einem lächeln, doch seine Augen waren so eiskalt wie die seines Bruders, als er Alaya auserwählt hatte. Ich schluckte.
„Natürlich. Verzeiht."
Ich drehte mich zu Dorian um und verschränkte die Arme.
„Ich war hier gerade in ein Gespräch vertieft. Ist es nicht viel eher unhöflich, ein Gespräch zu unterbrechen?"
Dorians Lächeln verschwand und er zog mich etwas von dem Hexer weg.
„Du solltest es vermeiden, mit Hexern zu reden. Man kann ihnen nicht trauen", zischte er leise.
Ich hörte ein Schaben hinter meinem Rücken. Avar musste wohl näher gekommen sein. Sofort schoss Dorians Blick hinter mich. Eine stumme Warnung.
„Beachtet mich nicht weiter, eure Hoheit. Ihr seid es nicht, den ich zu sehen gedachte."
Dorian verengte die Augen und schob mich bestimmt hinter sich.
Ich linste seitlich an ihm vorbei. Avars Blick lag auf mir.
„Wen würdet ihr denn lieber sehen wollen, als euren Prinzen, frage ich mich, Hexer."
Eine stumme Herausforderung lag in seinen Worten.
Erfreut über die Missgunst des Prinzen lächelte Avar und legte sich eine Hand auf die magere Brust. Als würde er sein Spielchen gerne spielen.
„Den König natürlich. Den einzigen, dem ich lieber meine Ehrerbietung darbringe, als euch, mein Prinz. Ich bin sicher, ihr versteht das."
Ich sah von Dorian zu dem Hexer. Nicht die Antwort, die Dorian erhofft hatte, wie es schien.
„Aber sicherlich. Ich bin sicher, mein Vater wird ein geduldigerer Zuhörer sein, als diese menschliche Dienstmagd. Wenn ihr uns entschuldigt."
Dorian neigte leicht den Kopf und eine Locke fiel in seine Stirn. Des Hexers Blick huschte zu mir und er lächelte. Dann sank er wieder in eine tiefe Verbeugung. Dass er für sein Alter noch so beweglich war, erstaunte mich.
Dorian zog mich an meinem Handgelenk mit sich, nicht unsanft aber bestimmt.
„Vertraue nie einem Hexer. Meide ihre Gegenwart und am aller wichtigsten, gehe nie einen Deal mit ihnen ein."
Ja, was das anging...
Er blickte zu mir runter und seine bernsteinfarbenen Augen wurden von einem schwarzen Rahmen dichtester Wimpern umgeben. Mädchen an meiner alten Schule hätten für solche Wimpern getötet.
„Was wollte er von dir?"
Ich zuckte die Schultern.
„Nichts."
Seine Augen verengten sich, aber er fragte nicht weiter nach. Zum Glück. Denn er hätte mich sicherlich ausgelacht, hätte er gewusst, dass ich kurz davor gewesen war, den Deal anzunehmen, der mir unterbreitet worden war.
Wir steuerten auf die Flügeltüren des Saals zu, als ich einen stechenden Blick in meinem Rücken verspürte. Während dem Gehen drehte ich mich um und sah Kira mit zwei Freundinnen etwas weiter weg stehen. Ihr Blick triefte vor Hass und Eifersucht. Eindeutige Emotionen, die sie gar nicht erst zu verbergen versuchte.
Keine Ahnung wieso, aber ich konnte es mir nicht verkneifen, ihr ein zuckersüsses Lächeln zuzuwerfen.
Sie konnte zwar sicherlich riechen, dass zwischen ihrem Angebeteten und mir nichts gelaufen war, aber ihre Eifersucht noch weiter anzufeuern fühlte sich einfach zu gut an. Als ich wieder zu Dorian blickte, grinste er mich wissend an.
„Freches Ding", meinte er und wir verliessen den Speisesaal.
„Wie kommt es eigentlich, dass ich dich immer aus den merkwürdigsten Situationen retten muss."
Merkte Dorian dann an, während wir den Gang entlang in Richtung der Gärten liefen.
Die wenigen Wesen, die noch auf waren, verbeugten sich vor ihrem Prinz. Während ich neben ihm her stolperte. Eine Dienstmagd. Das musste sicherlich lustig aussehen. Wahrscheinlich vermuteten sie, dass er mich für irgendwas bestrafte oder so. Ich selbst war mir nicht mal sicher, ob dem nicht wirklich so war.
„Ich habe ja auch nicht besonders viel mit was ich mich verteidigen könnte."
Merkte ich trocken an, während er mich in die nächtliche Kälte des anstehenden Frühlings hinaus zog.
Es roch nach süssen Blüten und ich konnte das Wasser aus dem nahe stehenden Brunnen plätschern hören.
„Deswegen habe ich dich gesucht."
Ich schnaubte.
„Du hast mich gesucht?"
Er nickte ernst und das Kies unter meinen Füssen knirschte, als wir unseren Weg durch die hängenden Gärten freiräumten, hin zu einem Teil des Gartens, den ich noch nicht gesehen hatte. Umringt von Gewächs und von den Blicken jeglicher Palastfenster geschützt, lag eine einfache kleine Wiese vor uns. Links ragten die grünen Gewächse in die Höhe und rechts konnte ich die massive Palastmauer ausmachen.
„Ich will meinen Teil der Abmachung einlösen."
Er drehte sich zu mir um und ich schlang die Arme um mich, als der Wind begann, durch meine dünnen Kleider zu ziehen.
„Du meinst, Kilians Teil."
Verbesserte ich. Er zuckte nur die Schultern.
„Wieso ist er nicht hier? Es war schliesslich unsere Abmachung."
Sichtlich genervt lehnte sich Dorian an die dunkle Wand, sodass sein Gesicht zur Hälfte im Schatten lag.
„Wäre dir das lieber gewesen?"
„Was?"
„Wenn Kilian hier wäre, statt mir."
„Vielleicht."
Seine Lippen verzogen sich zu einem abfälligen Grinsen.
„Ich kann es riechen, wenn du lügst."
Verdammt.
„Mir ist kalt", stiess ich hervor und das war keine Lüge.
Dorian stellte sich vor mich hin und betrachtete mich eingehend.
„Ich vergesse, dass du zerbrechlicher bist als wir. In jeder Hinsicht."
„Daran muss ich wirklich nicht erinnert werden, danke."
Motzte ich und er kehrte wieder zu seinem überheblichen Grinsen zurück.
Dann begann er, sich die Jacke auszuziehen. Ich erstarrte an Ort und Stelle. Oh Gott.
Unter der dicken Lederjacke mit Fellkragen trug er nur ein schwarzes, leichtes Hemd, das es nicht vermochte, die kräftigen Konturen seiner Oberarme und seines V-förmigen Oberkörpers zu verbergen. Ich blinzelte was das Zeug hielt, aber es half nicht.
Dann hing er mir die schwere Jacke über die Schultern und sofort durchströmte mich eine wohlige Wärme. Ich atmete erleichtert aus und Dorian zog seine Hände zurück, streifte dabei aber meinen Hals, was kleine Blitze über meine Haut jagte. Sein Lächeln war selbstgefällig, als sich unsere Blicke trafen. Eingebildeter Idiot.
„Dachtest du, ich wollte an der Stelle weiter machen, an der wir stehen geblieben sind?"
Er meinte uns. Ihn und mich in seinem Zimmer auf seinem Bett. Mir schoss die Röte in den Kopf und ich schnaubte.
„Nein. Hätte ich das gedacht, hättest du einen Tritt zwischen deine Beine bekommen."
Wenn er wusste, dass es eine Lüge war, liess er es sich jedenfalls nicht anmerken.
„Dann willst du mich jetzt nicht mehr küssen?"
Seine Stimme war leise, dunkler, gefährlicher. Anziehend. Ich sah ihm in die sonnig braunen Augen und entdeckte wieder das Feuer darin, das ansonsten immer erloschen war.
„Hast du Angst davor?"
Ich hob den Kopf und versuchte, die Arroganz in seinem Blick zu spiegeln.
„Zumindest habe ich keine Angst davor, einen Menschen zu küssen."
Erstaunen trat in seine Augen und er legte den Kopf schief.
Dann griff er sich an den Gürtel und zog einen schmalen Dolch mit spitzer Klinge hervor. Er war rabenschwarz, doch mit verschlungenen Worten in Gold graviert. Er sah elegant aus, so fern eine Waffe etwas anderes als tödlich sein konnte.
„Hier. Nimm den. Er sollte auf deine Grösse und Statur abgestimmt sein."
Ich nahm den kalten Griff des Dolches zögerlich in die Hand und als er ihn los liess, sackte mein Arm nach unten wie ein Anker.
„Verdammt", murmelte ich. Das Ding war scheisse schwer. Dorian schüttelte den Kopf.
„Bereits die Kinder trainieren bei uns damit."
Ich zeigte ihm den Finger und er lachte leise. Er hatte ein schönes Lachen, fiel mir auf. Nicht, dass ich ihn bisher jemals lachen gesehen hätte.
„Ausgemacht waren drei."
„Die anderen bekommst du, sobald du mit diesem umgehen kannst."
Frustriert schoss ich ihm einen düsteren Blick zu.
„Na gut. Und was mache ich jetzt damit?"
Er seufzte resigniert.
„Zuerst versuchst du, nicht dich selbst damit aufzuspiessen. Und danach versuchst du idealerweise, ein Ziel damit zu treffen."
Ich hielt den Dolch mit beiden Händen auf ihn gerichtet.
„Du solltest vielleicht keine Witze reissen, wenn ich einen Dolch halte", bluffte ich, in der Hoffnung, mal eine unerwartete Reaktion aus ihm heraus zu kitzeln.
Er hob die Brauen.
„Ahja?"
In der Sekunde darauf fehlte der Dolch in meiner Hand und stattdessen fand ich mich mit dem Rücken an die Mauer gedrängt wieder, die Spitze des Dolches an meinen Hals gelegt.
Dorians flammender Blick wirkte herausfordernd.
„Na gut. Ich war nicht vorbereitet."
Drückte ich hervor, während mein Herz wie wild gegen meinen Brustkorb hämmerte.
Dorian öffnete den Mund um etwas zu erwidern, aber dann fiel sein Blick auf meine Lippen.
Er wirkte auf einmal unruhig. Und gleichzeitig neugierig.
Als würde er bemerken, wie nahe sein Körper dem meinen war. Dann begann der Dolch von meiner Kehle weiter nach unten zu wandern. Über die Rundung meiner Brust und entlang meines flachen Bauches. Dorians Augen folgten ihm. Ich getraute mich nicht mehr zu atmen und konnte mich nicht von seinen schönen Gesichtszügen losreissen. Bei dem Gedanken, dass er mich gerade wirklich betrachtete, begann sich die Welt zu drehen. Der Dolch fuhr über meine Hüfte und dann meinen Oberschenkel hinunter. Dabei streiften seine Fingerknöchel die Innenseite meiner Beine, direkt unter dem Leinen-Kleid, dass nicht mehr dort sass, wo es sollte. Ein kleiner, verräterischer Laut entfuhr meiner Kehle und er hielt in der Bewegung inne. Nicht aufhören, hätte ich gerne geschrien. Aber Dorians schimmernde Augen hoben sich und sein Blick traf auf meinen.
Dann entfernte er sich ruckartig von mir, schüttelte seinen Arm und ich konnte wieder tief einatmen.
„Ich bezweifle stark, dass sich deine künftigen Gegner ankündigen werden", meinte er herablassend und schlenderte zurück zur Wiese.
„Na los, wir beginnen mit dem Stand. Keine Waffe ist effektiv, wenn sie nicht auf deine körperliche Stärke zurückgreifen kann."
Ich äffte ihn lautlos nach und trottete zu ihm.
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Devouring Dreams
FantasyIn einer fremden Welt feststecken, gemeinsam mit ihrer Schwester an ein Königshaus verkauft werden und den magischen Kreaturen dort gnadenlos unterlegen sein, davon kann Zenya ein Lied singen. Und trotzdem beschliesst sie, sich ihren Weg zurück in i...