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Wincent

Der Stress im Urlaub hatte sich zum Glück schnell wieder gelegt. Also einfach, weil wir unsere Handys wieder in den Flugmodus verbannten. Wir lenkten uns mit langen, teilweise auch tiefgründigen Gesprächen und ausgiebigen Wanderungen ab. Einen Tag verbrachten wir auch in einer Therme, die ganz in der Nähe lag. Maria hatte sich wieder dazu bereit erklärt, auf Fritz aufzupassen. Dafür luden wir sie am letzten Abend zu uns ein und Anna zauberte ein fabelhaftes Essen auf den Tisch. Es war fast das Highlight des Urlaubs, denn nach dem Abendessen spielten wir noch einige Runden Memorie. Ich merkte immer wieder, dass dies nie mein Spiel werden würde, denn sogar Maria zog mich ziemlich ab. Anna freute sich sichtlich, dass sie endlich mal eine Ernst zu nehmende Gegnerin hatte. Inzwischen war der Alltag zurück, was bedeutete, dass meine Freundin morgens zur Arbeit ging und ich von Termin zu Termin hetzte. Zwischendurch verbrachte ich immer mal Zeit im Studio, denn mir kamen noch Ideen für das Weihnachtsalbum. Mal wieder zehn Minuten zu spät, weil ich mit Anna überzogen hatte, kam ich im Studio an. Philipp war schon da und wartete auf mich.
„Sorry", sagte ich und ließ mich neben ihn auf den Stuhl fallen.
„Kein Problem. Können wir?", fragte er mich.
„Lass uns mal bitte erst einmal nochmal in die Demos reinhören. Danach ist mein Puls wieder so, dass ich vernünftig singen kann."
„Alles klar. Womit willst du anfangen?"
„Mit dem Song von vorgestern", antwortete ich.
Philipp öffnete die entsprechende Datei und gemeinsam hörten wir uns die Demo an, die wir bereits aufgenommen hatten. Zum Glück hatten wir noch so viel Zeit, dass wir kein Problem mit Universal bekamen, wenn wir noch zwei Songs ergänzten. Immerhin sollte das Album ja erst im Dezember kommen.
„Mach mal da stopp", bat ich Philipp.
„Was?", fragte er und sah mich abwartend an.
„Ich hab mir mal nochmal Gedanken gemacht und einige Sachen im Text markiert. Da müssten wir noch einmal drauf schauen bitte. Ich bin nicht ganz zufrieden, aber alleine kam ich bisher nicht weiter."
„Klar. Gib her, wir schauen gemeinsam drauf. Dafür sind wir ja hier."
Ich öffnete die Notizenapp und reichte Philipp mein Handy.

Wir probierten einige Versionen aus, bis ich wirklich zufrieden war

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Wir probierten einige Versionen aus, bis ich wirklich zufrieden war. Nach einer kurzen Pause machten wir uns dann an die finalen Aufnahmen. Ich brauchte einige Anläufe, aber schließlich hatten wir alles im Kasten.
„Das klingt richtig gut", meinte Philipp, als wir uns den ganzen Song noch einmal anhörten.
„Finde ich auch", stimmte ich zu. „Dann haben wir schon vierzehn Songs für das Weihnachtsalbum."
„Ja, so ist es. Wollen wir morgen noch den letzten Track machen?", fragte Philipp.
„Gute Idee. Heute müssten wir nämlich langsam Schluss machen", gab ich zu. „Ich muss noch etwas für Annas Weihnachtsgeschenk machen."
„Okay. Dann viel Erfolg und wir sehen uns morgen früh."
„Zehn Uhr?", fragte ich.
„Geht klar. Dann mach ich das hier noch fertig, speicher das und dann ist fertig."
„Danke. Bis morgen dann", verabschiedete ich mich.
„Bis morgen, Wince."
Ich verließ das Studio und machte mich auf den Weg. Die Fahrt dauerte zum Glück nicht so lange. Ich liebte Annas Geschenk jetzt schon und hoffte sehr, dass es ihr genauso gefiel. Nach einer Stunde machte ich mich auf den Rückweg zu Annas Wohnung. Dort zog ich mich schnell um und lief dann zur Therapiepraxis. Allerdings unterschätzte ich die Strecke ein wenig und kam ein wenig zu spät an der Praxis an.

Annalena

„Na? Wie war die Therapie heute?", fragte Wincent, als wir in Richtung meiner Wohnung liefen.
„Na ja. Wir haben über meine Mutter gesprochen", erzählte ich.
„Echt?", hakte er überrascht nach.
„Ja. Also über das bisschen, was ich weiß. Ich habe sie ja nie kennengelernt."
„Würdest du gerne?", fragte er sanft nach.
Ich dachte nach. Wollte ich? Um endlich mal all die Fragen zu stellen, die mich mein ganzes Leben geleiteten? Doch was war, wenn sie doch irgendwie gute Gründe hatte? Oder wenn ich sie mochte und ihr alles verzieh? Konnte ich das überhaupt? Sie kannte nichts aus meinem Leben. Wahrscheinlich würde ich meine Mutter auch gar nicht erkennen.
„Keine Ahnung", gab ich schließlich ehrlich zu. „Hast du denn deinen Vater mal kennengelernt?"
„Na ja, ist vielleicht ein bisschen zu viel gesagt. Ich habe ihn ein einziges Mal getroffen", antwortete er.
„Nicht gut?", hakte ich vorsichtig nach.
„Nein." Er machte eine kurze Pause. „Aber ist okay. Ich hab eine liebevolle Familie mit meiner Mutter, meiner Schwester und meinen Großeltern."
„Und mit deinem Team", erinnerte ich ihn.
„Dich und Fritz nicht zu vergessen." Er zog mich näher an sich.
„Weißt du, ich glaube, ich will meine Mutter nicht treffen", sagte ich irgendwann. „Ich meine, ich habe alles. Mein Vater ist immer für mich da, Steffi auch. Ich habe Lara an meiner Seite, dich, Fritz, Mats... Warum brauche ich da jemanden, dessen Blut durch meine Adern fließt, aber nie für mich da war?"
„Ich bin richtig stolz auf dich", erwiderte Wincent und drückte meine Hand.
„So, Themenwechsel. Was hast du in der Zwischenzeit gemacht?", wollte ich nun von meinem Freund wissen.
Er berichtete mir, dass er am Vormittag im Studio war und einen neuen Song für das Weihnachtsalbum beendet hatte. Allerdings wollte er ihn mir leider noch nicht zeigen.
„Und während meiner Therapie?"
„Ach, da war ich ein bisschen unterwegs", antwortete er ausweichend.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er mir etwas verschwieg. Aber andererseits wirkte er jetzt nicht übertrieben angespannt, als würde es um etwas Verbotenes gehen. Und ehrlicherweise hatte ich ja auch ein Geheimnis vor ihm, nämlich sein Weihnachtsgeschenk. Deshalb nahm ich seine Antwort einfach so hin.
In meiner Wohnung angekommen, die inzwischen schon fast unsere gemeinsame Wohnung war, ging ich erst einmal ins Bad. Währenddessen hörte ich Wincent mit Fritz spielen. Hoffentlich ließen sie mein Wohnzimmer ganz. Doch inzwischen wusste ich sehr wohl, dass mein Freund Rücksicht nehmen und ordentlich sein konnte. Leider ging das noch nicht immer, aber irgendwann hatte ich ihn soweit.
„Und? Was machen wir mit dem angebrochenen Nachmittag?", fragte ich meine beiden Männer, als ich das Wohnzimmer betrat.
„Gute Frage", antwortete Wincent. „Fritz, was machen wir jetzt?"
„Ich weiß nicht, ob du ihn fragen solltest", warf ich ein.
„Wieso? Ich finde, wir können ihn ruhig auch mal entscheiden lassen."
Fritz bellte zustimmend und ich schüttelte mal wieder den Kopf darüber, wie gut die beiden sich verstanden. Wozu brauchten die mich überhaupt?
„Ihr könntet auch einen Männernachmittag machen und ich frag Lara, ob wir etwas machen", schlug ich vor.
„Klingt verlockend, aber nicht heute", erwiderte Wincent. „Heute schlage ich einen Ausflug an den See vor. Nochmal das gute Wetter genießen."
„Klingt gut. Aber abends will ich mit dir essen gehen."
„Deal. Dann pack ich mal unsere Sachen", sagte Wincent.
„Ich kümmere mich um Fritz Sachen. Hilfst du mir?", wandte ich mich an meinen Hund.
Er bellte und im nächsten Moment spürte ich seinen Schwanz an meinen Beinen. Das war dann wohl eindeutig.
„Dann suchen wir mal heraus, was wir mit ans Wasser nehmen", sagte ich und öffnete den Schrank im Flur, in dem nur Fritz Sachen waren.
Nach zehn Minuten waren sowohl Wincent als auch ich fertig. Etwas genervt beantwortete er meine ganzen Nachfragen, hatte tatsächlich aber an alles gedacht. Ich schlüpfte in meine Schuhe, nahm die Tasche meines Hundes und leinte ihn an. Wincent nahm noch zwei Flaschen Wasser mit und schloss hinter uns die Tür ab. Gemeinsam gingen wir nach unten und schmissen alles in Wincents Auto. Inzwischen kannte ich es gut genug, um alleine auf den Beifahrersitz zu klettern. Wincent ließ Fritz auf die Rückbank und setzte sich dann hinters Steuer. Als er den Motor startete, erschallte laute Metalmusik, die er schnell abdrehte.
„Sorry", murmelte er.
„Kein Problem."
Auf der Fahrt zum See erzählte Wincent mir, was draußen zu sehen war. Ich erfuhr, welche Läden es gab, dass viele Menschen unterwegs waren und natürlich regte er sich in der Innenstadt auch über andere Autofahrer auf. Auf der Landstraße war er wieder ruhiger, aber da gab es außer Häusern und einigen Feldern nicht viel zu sehen. Nach zwanzig Minuten über Land parkte Wincent das Auto und wir stiegen aus. Fritz schien es hier zu gefallen, denn er wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Wincent reichte mir eine der Taschen und nahm die andere selbst. Er schloss das Auto ab und griff dann nach meiner Hand.

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt