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Wincent

„Anna?", fragte ich in die Wohnung und ging weiter hinein.
Mats schloss die Tür hinter uns und wir folgten dem Lichtschein, der auf den Flur fiel. Im Wohnzimmer lagen Lara und Anna auf der Couch und sahen alles andere als fit aus. Die herumstehenden Flaschen erklärten ganz eindeutig Annas nicht ganz so verständliche Nachricht. Ich kniete mich neben die Couch und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht.
„Hey, alles gut bei dir?", fragte ich, denn ich kannte meine Freundin nicht unbedingt als jemand, der viel Alkohol brauchte.
Doch wer wusste, worüber sie sich so unterhalten hatten.
„Wince?", murmelte sie.
„Ja. Ich bin hier und ich bringe dich nach Hause, okay?"
„Lara."
„Mats kümmert sich um sie. Ganz bestimmt."
„Nein", protestierte Anna müde.
Ich sah fragend zu meinem Fotografen, der genauso irritiert schien. Das ergab hier irgendwie alles noch keinen Sinn und nachts um eins war echt nicht meine Zeit, um irgendwelche Frauenrätsel zu lösen. Mats schien das ähnlich zu sehen.
„Komm, bring Anna nach Hause, ich mach das hier. Wir quatschen morgen", sagte er.
„Machen wir so. Gute Nacht, Mats."
„Gute Nacht, Wince und danke. Gute Nacht, Anna."
Meine Freundin war schon eingeschlafen, weshalb ich erst einmal ihre Sachen zusammen suchte und in die Tasche schmiss. Dann nahm ich ihre Jacke, legte sie Anna um und schob ihre Schuhe auf die Füße. Vorsichtig hob ich meine Freundin hoch und Mats war so lieb und öffnete mir noch Laras Wohnungstür. Die Haustür unten ging einfacher auf, weil sie von innen einen Türöffner hatte. Ich trug Anna zum Auto und setzte sie vorsichtig auf den Beifahrersitz. Das Anschnallen war nicht ganz so leicht, aber schließlich hatte ich es geschafft und fuhr durch die nächtlichen Straßen Berlins zu Annas Wohnung.
Zum Glück war heute Samstag, denn als ich wach wurde, war es bereits zehn Uhr. Anna lag noch immer genauso neben mir, wie ich sie heute Nacht hingelegt hatte. Wahrscheinlich schlief sie ihren Rausch aus. Ich besorgte ein Glas Wasser und eine Aspirin und legte alles auf dem Nachttisch bereit. Dann sprang ich schnell unter die Dusche und als ich angezogen war, checkte ich mein Handy. Mats berichtete, dass Lara auch noch schlief, also waren wir genauso ahnungslos wie letzte Nacht. Ich holte die Kiste mit den Holzbuchstaben heraus und legte Anna ein großes B, ein kleines g, ein kleines w und ein kleines d auf den Küchentisch. Im Urlaub hatten wir Groß-und Kleinbuchstaben geübt und seitdem legte ich immer mal wieder kleine Botschaften auf den Tisch. Wir arbeiteten hauptsächlich aus Platzspargründen mit Abkürzungen. Das jetzt hieß zum Beispiel ‚Bin gleich wieder da'. Ich zog mir Schuhe und Jacke an, steckte mein Handy und mein Portemonnaie ein und pfiff leise nach Fritz. Wir gingen eine Runde spazieren und hielten, wie ziemlich oft in letzter Zeit, am Bäcker an. Mit frischen Brötchen machten wir uns wieder auf den Rückweg. Ich sah kurz nach Anna, aber sie schlief noch. Als der Kaffee fertig war, ich kochte direkt mal eine Kanne, und das Rührei ebenfalls genießbar aussah, weckte ich meine Freundin dann doch auf.

Annalena

Ich hatte ziemliche Kopfschmerzen, als Wincent mich aus dem Schlaf riss. Die Tablette, die er mir reichte, nahm ich liebend gerne an und dann beschloss ich, schnell zu duschen. Das half mir eigentlich immer am besten. In Jogginghose und einem einfachen T-Shirt ging ich in die Küche und dort roch es ziemlich gut. Vor allem der Kaffee war verlockend.
„Setz dich", forderte Wincent mich auf.
Wir ließen uns das Frühstück schmecken, wenn auch schweigsamer als sonst. Meine Kopfschmerzen wurden zwar langsam besser, aber ganz weg waren sie nicht. Ich war dankbar, dass Wincent noch nicht nach dem vergangenen Abend gefragt hatte, aber dieses Gespräch stand mir ganz bestimmt noch bevor.
„Fritz war schon draußen. Wenn du willst, kannst du dich ein bisschen auf die Couch legen und wir gehen am Nachmittag nochmal gemeinsam raus", schlug Wincent vor.
„Eine ausgezeichnete Idee", fand ich und kuschelte mich auf dem Sofa in eine Decke.
„Film? Hörbuch?"
„Ich hätte Lust auf Vaina."
Wincent lachte leise. „Dir gestern die Kante geben und jetzt einen harmlosen Kinderfilm haben wollen."
Wirklich viel bekam ich ehrlicherweise nicht mit, denn ich schlief nach dem ersten Song schon wieder ein. Wincent weckte mich, als gerade der Song vom Abspann lief. Ich quälte mich von Wincents Schoß, den ich als Kopfkissen benutzt hatte, hoch und ging mir straßentaugliche Sachen anziehen. Die frische Luft tat mir sehr gut und so langsam verabschiedeten sich meine Kopfschmerzen. Natürlich fragte Wincent mich unterwegs nach dem vergangenen Abend und so erzählte ich ihm, dass Lara nur ein paar Tipps brauchte und dass ich sie endlich in Martha eingeweiht hatte.
„Ich bin stolz auf dich, dass du es ihr erzählt hast", sagte Wincent. „Allerdings hätte es weniger Alkohol vielleicht auch getan."
„Vielleicht ein bisschen. Aber Lara musste sich Mut antrinken und ich mir vielleicht auch ein kleines bisschen", konterte ich.
„Du könntest fast bei uns im Team anfangen, aber dafür musst du noch ein bisschen trinkfester werden."
„Kein Problem", erwiderte ich. „Aber was soll ich denn bei dir machen? Das blinde Huhn?"
Inzwischen waren wir wieder in meiner Wohnung und lümmelten auf dem Sofa.
„Na ja, das findet auch ab und zu ein Korn", konterte er direkt.
„Na danke. Aber jetzt mal ehrlich, was könnte ich denn überhaupt machen?"
„Bei mir sein", antwortete er.
„Und dafür wird man bezahlt? Klingt verlockend", sagte ich und tat so, als würde ich wirklich darüber nachdenken.
„Allerdings könnte das auch irgendwann ziemlich langweilig werden, wenn du in Fernsehshows oder auf der Bühne bist", überlegte ich laut weiter.
„Ach, da findet sich eine Beschäftigung."
„Du willst aber nicht wirklich mein Chef werden, oder?"
Wincent dachte kurz nach. „Vorteile hätte es schon", gab er zu. „Aber ich weiß, dass du nicht aus Berlin weg willst. Du arbeitest gerne dort und außerdem hast du ja Fritz und Lara."
Er hatte schon Recht, aber ehrlicherweise reizte mich Reisen mit Wincent schon irgendwie. Allerdings sah ich das Problem, dass ich im Team nie wirklich helfen konnte. Und Fritz wäre auch nicht wirklich begeistert.
Das Klingeln meines Handys riss mich aus den Gedanken. Ich nahm den Anruf an.
„Ja?"
„Na, Anna. Wie geht's dir?", fragte Lara und wirkte genauso müde, wie ich mich fühlte.
„Geht so. Und bei dir?"
„Auch."
„Warum hast du angerufen? Doch nicht nur, um mich danach zu fragen."
„Ne. Ich wollte mich eigentlich nochmal für den Abend bedanken. Wir müssen das echt häufiger machen, wenn auch vielleicht nicht immer mit so hohem Pegel", antwortete sie.
„Da bin ich dabei."

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt