Zum ersten Mal sah ich es nach dem Duschen. Der Spiegel im Badezimmer war bis zur Unkenntlichkeit beschlagen. Nur die Umrisse meines Gesichts konnte ich ausmachen. Ich beugte mich ein Stück nach vorne und musterte das verschwommene Gesicht. Fasziniert hielt ich den Augenkontakt mit dem was ich für mich hielt. Langsam bewegte ich den Kopf nach links und rechts. Der andere Blick folgte dem meinen im gleichen Takt. Mit einem leisen Lachen stieß ich die Luft aus und ging ein Stück nach links auf dem Schrank zu. Die Reflektion folgte meiner Bewegung. Vom Spiegel aus wanderte sie auf die weiße Fließe an der Wand. Hundertfach zeigte sie sich in den kondensierten Wassertropfen. Tief sahen mich die schwarzen Pupillen an.
Auch als ich mich abwandte. Das Gefühl des Beobachtens wandelte sich in ein Beobachtet-Werden. Schnell drehte ich mich um. Dort war nichts. Welche kindische Fantasie hatte mich in diesem Augenblick übermannt? Kopfschüttelnd verließ ich das Badezimmer. Aus dem Augenwinkel sah ich mein Abbild in dem großen Spiegel im Flur. Sie schien sich abgehakt zu bewegen. Eine unnatürliche Handbewegung erregte meine Aufmerksamkeit. Abrupt drehte ich den Kopf zur Seite. Mein Spiegelbild sah mich ängstlich an. Die schwarzen Pupillen waren weit aufgerissen. Keinerlei Auffälligkeiten.
Über die Treppe in den ersten Stock verfolgten mich meine Schatten unter dem flackernden Licht. Vielfach tanzten sie um mich herum. Still begleiteten sie mich die Treppe nach oben. Ihre Arme und Beine verzerrten sich. Warnend hoben sie die knöchrigen Hände in die Luft. Wieder fühlte ich mich beobachtet. Mein Blick suchte die Umgebung ab. Da war nichts. Die letzten Schritte brachte ich ungewohnt hektisch hinter mich.
Endlich erreichte ich mein Schlafzimmer und verschloss die Tür hinter mir. Ich war alleine in diesem Haus. Meine Gefühle waren irrational. Meine Hand griff in meine Hosentasche. Etwas Musik über mein Handy würde mich sicherlich ablenken. Ich tastete in die Leere. Suchend fummelte meine Hand umher. Das Handy musste noch unten im Badezimmer liegen. Vorsichtshalber griff ich in die linke Tasche. Meine Finger wanderten tiefer und tiefer an dem weichen Stoff entlang. Ein leichtes Kribbeln erfasste die Nagelbetten. Dann spürte ich etwas. Meine Hand schloss sich. Doch ich griff in die Leere. Kein Handy. Nur Stoff.
Resigniert ging ich zu meinem Kleiderschrank. Der Spiegel an seiner Front zeigte mich und den Raum. Die Schatten waren allesamt im Flur zurückgeblieben. Ich ergriff die Tür mit dem Spiegel darauf und öffnete sie. Mein Ebenbild wurde zur Seite geschoben. Kurz setzte mein Herz für einen Schlag aus. Hatte ich richtig gesehen? Die Gestalt im Spiegel hatte sich bei der Bewegung zur Seite geneigt. Als würde sie zur Seite aus dem Glas herausfallen und in meinem Zimmer auf dem Parkett landen. Ihre schwarze Klaue war bereits an der Seite herausgekommen. Mit Wucht schlug ich die Tür zu. Nur ich war zu sehen. Mein Zimmer blieb leer. Es musste am Stress liegen. Heute lief die Frist aus. Schrank auf. Kleidung heraus. Schrank zu. Ich drehte mich mit dem Rücken zu dem Spiegel und zog mich um. Ein Gefühl der Schwere legte sich von hinten auf mich. Abrupt reckte ich den Kopf nach hinten. Mein Nacken knackte schmerzhaft unter der hektischen Bewegung. Offensichtlich war da nichts. Mein Lachen erklang.
Ich zog den Schreibtischstuhl aus der Nische an der Seite des Schrankes heraus. Mit einem Finger startete ich den Computer. Aus dem Augenwinkel sah ich die Spiegeltür. Der Computer fuhr hoch. Meine Augen wanderten nach links zu dem Spiegel. Nichts zu sehen. Erleichtert atmete ich aus. Dennoch verließ das Kribbeln meine linke Körperhälfte nicht. Ich drehte den Kopf in die andere Richtung und sah durch mein Fenster in die schwarze Nacht hinein. Auch in der Scheibe spiegelte sich mein Körper. Die zusammengekauerte Gestalt stierte mich irre an. Ihre Pupillen nahmen beinahe das gesamte Auge ein. Verwirrt schüttelte ich den Kopf und sah erneut hin. Ich saß eingesunken auf meinem Schreibtischstuhl. Meine Pupillen waren groß unter der geringen Beleuchtung und zitterten dezent. Mit Mühe und Not erkannte ich in dieser Reflektion den Spiegel meines Schrankes. Darin saß ich mit ebenfalls rundem Rücken auf dem Schreibtischstuhl und starrte in den Raum hinein. Halt! Müsste mein Spiegelbild nicht auch in das Fenster sehen? Natürlich. Und das tat es auch. Ich hatte in den vergangenen Tagen eindeutig zu wenig geschlafen.
Der Computer verlangte von mir die Eingabe eines Passworts. Gefügig tippte ich die Buchstabenabfolge ein. In meinen Ohren rauschte es. Die Musik gestern war ein bisschen zu laut gewesen. Der Desktop zeigte sich mir. Als erste schaltete ich über meine Boxen Musik ein. Melodische Schwingungen erfüllten den Raum. Mit ihnen nahm das Kribbeln an meiner linken Körperseite ab und wanderte zu meinem Rücken. Langsam breitete es sich aus. Dann zog es sich zusammen. Am Ende war es in meinem Nacken versammelt. Ich schnellte herum. Um ein Haar wäre ich vom Stuhl gefallen. Hinter mir lag der leere Raum samt Bett. Unter dem Bett lag Dunkelheit. Es war kindisch. Dennoch wollte ich endlich in Ruhe arbeiten. Ich ergriff die Taschenlampe vom Nachttisch und beugte mich zum Boden. Das Licht flammte auf. Abgesehen von Staub und Spinnen war dort nichts. Beruhigt stellte ich die Lampe auf den Tisch zurück. Der Computer hatte derzeit seinen Bildschirmschoner aktiviert. Die Schwärze reflektierte mein Gesicht. Hektisch wedelte ich mit der Maus herum. Langsam kam die Grimasse näher an das Glas des Bildschirms. Sie entblößte ein Gebiss. Ein nichtmenschliches Gebiss. Ihre Augen funkelten Irre. Jedes Merkmal war seltsam verschwommen. Hell leuchtete der Bildschirm auf und blendete mich. Mein Atem ging stoßweise. Am liebsten hätte ich meine Wohnung verlassen. Bloß nicht mehr hier sein. Ablenkung in der Stadt suchen. Doch heute endete die Frist. Ich besann mich. Es war nichts. Das alles bildete sich mein müder Verstand ein. Das Summen meiner Ohren schwoll weiter an.
Eigentlich war ich mit allem fertig. Bislang hatte ich mich nur nicht zum Absenden durchringen können. Fahrig klapperten meine Finger über die Tastatur. Zwischendurch zuckte mein Blick umher. Der Spiegel zu meiner Linken. Das Fenster zu meiner Rechten. Der Bildschirm. Eine Wink-Bewegung ging von den schwarz glänzenden Lautsprechern auf dem Schreibtisch aus. Oder waren es die Bewegungen meiner Finger? Ich öffnete mein Postfach und dort die Entwürfe. Ich suche die richtige E-Mail heraus. Kurz übersah ich den Inhalt sowie die Anhänge. Dann drücke ich ohne weiteres Nachdenken auf Absenden. Abmelden. Fenster schließen. Ausschalten. Keuchend stand ich auf und drehte mich im Kreis. Nichts zu sehen. Wieder erklang mein Lachen. Ich sauste nach unten. Jetzt war es eindeutig. Nicht ich war in den Reflektionen zu sehen. Etwas verfolgte mich auf meinem Weg. Es rannte durch die Fensterscheibe. Es überquerte den Spiegel an meinem Schrank. Es lachte mich von den Lampen im Flur aus an. Es spähte aus dem Spiegel im Badezimmer. Ich umfasste den Schlüsselbund und öffnete die Haustür. Es war direkt vor mir in der Scheibe. Gierige Augen lüsterten in meine Richtung. Klauen streckten sich nach meinem Hals aus. Ich riss den Schlüssel aus dem Schloss. Hinter mir blieb die Tür offen. Meine Schritte beschleunigten sich zum Rennen.
Ich erreichte das Auto und schwang mich ins Innere. Tür zu. Sicherung aktivieren. Kurz schnaufte ich Luft aus. Schlüssel in das Schloss und Umdrehen. Der Motor erwachte aus seinem Schlummer. Mein Fuß drückte sich nach unten. Das Auto rollte die Auffahrt herunter in Richtung der Straße. Erster Gang. Zweiter Gang. Dritter Gang. Vierter Gang. Fünfter Gang. Sechster Gang. Viel zu schnell ließ ich die Ortschaft hinter mir. Doch Geschwindigkeiten zählten in seiner Welt scheinbar nicht. Es lief in den Scheiben des Autos neben mir er. Es verhöhnte mich. Beinahe konnte ich seinen fauligen Atem riechen. Meine Hand wanderte in das Fach der Autotür. Ich zückte einen kleinen Nothammer. Mit einem Schrei schwang ich ihn. Im nächsten Moment umgab mich rasend frische Luft. Draußen war niemand neben meinem Auto. Ich legte eine Vollbremsung ein. Ohne nachzudenken. Das Beifahrerfenster. Ich schlängelte mich zwischen den Sitzen hindurch nach hinten und zerschlug die Scheiben. Mein Arm strecke sich zur Heckscheibe. Klirrend tanzten die gläsernen Splitter.
Das Auto brauste weiter. Ich hatte einen fatalen Fehler begangen. Aus den abertausenden Glassplittern sah es mich an. Das war kein Lachen oder Grinsen. Ein diabolischer Ausdruck lag in seiner Mimik. Sein Gebaren wurde zusehends bedrohlicher. Ich riss den metallenen Stern aus dem Lenkrad. Wie wild schleuderte ich ihn aus dem Fenster. Blut lief meine Hand entlang. Dennoch schlug ich jeden Glasrest heraus. Voller Wut zertrümmerte ich die reflektierenden Armaturen. Endlich war ich frei. Der Wind tanzte um meine Nase. Die Geschwindigkeit umgab meinen Körper. Ein Lachen erklang. In Zeitlupe wanderten meine Augen weiter nach oben. Ich sah in den Rückspiegel. Es saß auf der Rückbank inmitten der Scherben. Blut floss an seinen Armen herunter. Kranke Wildheit zeichnete seinen Ausdruck. Es streckte beide Hände aus. Meine Schultern kribbelten wie taub. „Es ist an der Zeit für uns zu tauschen."
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Gegenbild
HorrorWas, wenn der Tag kommt, an dem das Spiegelbild nicht mehr nur Abbild sein möchte? Kann man vor seiner eigenen Reflektion flüchten?