44 - In der Nacht

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Viv atmete auf, als ihr ein schüchtern knicksendes Hausmädchen ein Tablett mit Suppe und Butterbrot brachte und Mrs Helwick, die dem Mädchen folgte, ihr erklärte, dass sie sich von nun an frei im Haus bewegen könnte.

„Ich bin keine Gefangene mehr?", vergewisserte sich Viv und machte sich hungrig über die Gemüsesuppe her.

Hetta errötete leicht. „Sie müssen einen eigenartigen Eindruck von mir gewonnen haben. Jedoch dient alles, was ich tat, dem Schutz meiner Familie."

„Sie haben viel von Ihrem Bruder, was?", bemerkte Viv.

Hetta überhörte die flapsige Bemerkung und lächelte leicht. „Mein Bruder und ich sind einander sehr verbunden."

„Und die Kette?"

Hettas Lächeln vertiefte sich. „Essen Sie in Ruhe auf. Den Weg zum Wald sollte man nicht mit leerem Magen antreten."

„Der Weg zum Wald?"

„Aber ja. Ich nehme doch an, Sie wollen so schnell wie möglich dorthin zurückkehren, woher Sie gekommen sind. Es lauert doch keine Gefahr mehr, wie Sie mir selbst erzählten. Ich werde Sie begleiten und bei den Steinen erhalten Sie die Kette.

Vivs Augen weiteten sich. Das lief schon wieder ganz anders, als sie es erwartet hatte. Doch sie wusste, dass sie sich jetzt keine Blöße geben durfte. Stattdessen musste sie sich bemühen, Hetta Helwicks Misstrauen zu zerstreuen.

„Die Nachwirkungen des letzten Gangs durch die Steine sind mir noch zu gut in Erinnerung. Ich glaube nicht, dass ich schon wieder ganz wiederhergestellt bin, um nochmals durchzugehen. Geben Sie mir einfach den Stein und ich..."

„Sie müssen entschuldigen, Miss Lenster, aber ich traue Ihnen bei weitem nicht genug, um Ihnen den Stein auszuhändigen."

„Er gehört Ihnen nicht. Genauso wenig wie der Samantha oder Lord Velton gehört", begehrte Viv auf.

„Und genauso wenig gehört er Ihnen" sagte Hetta milde lächelnd. Falls sie sich an Vivs Ton störte, so zeigte sie es nicht. „Sie bekommen Ihn, wenn Sie ihn brauchen. Sagen Sie mir einfach, sobald sie soweit sind, nach Hause zurückzukehren. Und wenn es bis zum nächsten Vollmond dauern sollte, dann brauchen Sie den Stein sowieso nicht. Allerdings werden dann mein Bruder und meine Schwägerin zurückkehren und dann wird sich zeigen, ob Ihre Geschichte wahr ist. Und wenn sie nicht zurückkehren, dann..." Hettas Stimme wurde eine Oktave tiefer und, wie Viv fand, bedrohlicher.

Viv musterte die schlanke, dunkelhaarige Frau mit dem würdevollen Auftreten unter gesenkten Lidern hervor und schwieg.

Hettas warmes Lächeln kehrte zurück, als sei es nie weggewesen. „Jetzt essen Sie. Im Anschluss können Sie mir im kleinen Salon Gesellschaft leisten. Sollten Sie etwas brauchen, dann läuten Sie bitte."

~

Viv fühlte sich nicht wohl in der Vergangenheit und Mrs Helwicks offenes Misstrauen, das sich einfach nicht zerstreuen ließ, verstärkte das unbehagliche Gefühl noch. Hätte sie nicht ein Ziel vor Augen, dann hätte sie Hettas Angebot angenommen und wäre umgehend in ihre Zeit zurückgekehrt. - Allerdings hatte sie nicht gelogen. Sie fürchtete sich tatsächlich von den Schmerzen und allein der Gedanke daran genügte ,um ihr das Kreischen und das Gefühl in Stücke gerissen zu werden, wieder bewusst werden zu lassen.

Doch die Erinnerung daran und die Aussicht, es bald erneut zu erleben, durfte sie nicht lähmen. Sie war schließlich eine modere, selbstbewusste Frau, die ihre Ziele aus eigenem Antrieb heraus erreichten konnte, wenn sie nur hartnäckig genug war. Das tat sie immer. Ihre desaströse Beziehung mit Mark hatte sie gelehrt, sich niemals wieder auf jemanden anderen als sich selbst zu verlassen.

Die Schatten von FerywoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt