~Cleo
Als ich am nächsten Tag über den Campus zum Eingang des Internats lief, regnete es in Strömen. Ich hatte keine Ahnung, was Rune und ich den Göttern getan hatten, um das zu verdienen, aber der Himmel war pechschwarz und vernichtete jede Hoffnung auf besseres Wetter. Ich zupfte die Kapuze meiner grünen Regenjacke zurecht und huschte mit gesenktem Kopf weiter, damit mir die Regentropfen nicht ins Gesicht klatschten. Angesichts des miesen Wetters hatte ich gar nicht erst versucht, meinem Outfit etwas mittelalterliches zu verleihen- die quietschgrüne Regenjacke hätte ohnehin alles zunichte gemacht. Lediglich der Haarstab in Form eines antiken Schwertes, den Rune mir zum Geburtstag geschenkt hatte, steckte in meinen Haaren.
Als ich schließlich vor dem Tor des Internats ankam, stellte ich fest, dass Rune noch nicht da war. Ich war wenige Minuten zu früh, aber es war ungewöhnlich, dass ich vor ihm hier war. Normalerweise hatte er die Angewohnheit, zu unseren Treffen prinzipiell viel zu früh aufzukreuzen.
Vielleicht war er gerade aber auch noch damit beschäftigt, seine Haare in die komplizierteste Flechtfrisur des Mittelaltermarktes zu verwandeln. Bei diesem Gedanken musste ich lächeln. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die dicke Mauer, die das Internatsgelände umgab, und trommelte mit den Fingern ungeduldig dagegen. Nachdem ich eine Weile einem Regenwurm dabei zugesehen hatte, wie er sich aus der Erde bohrte und langsam vorwärts robbte, griff ich nach meinem Handy und blickte auf die Uhr. Fünf Minuten nach der verabredeten Zeit. Nicht weiter schlimm, aber es sah Rune gar nicht ähnlich, zu spät zu Treffpunkten zu erscheinen.
Weitere fünf Minuten später wurde ich allmählich unruhig. Hatte Rune es sich anders überlegt? Hatte er es vergessen? Aber Rune würde dieses Treffen doch nicht einfach so vergessen, oder?
Suchend sah ich mich um, gerade als ein Schatten auf mich herab fiel. Ich drehte mich um. ,,Ich dachte schon, du hättest-” Als ich den Kopf hob, blickte ich jedoch nicht in Runes bernsteinfarbene Iriden, sondern in ein giftgrünes Augenpaar, das mich wachsam musterte.
,,Cleo”, sagte Dawson. ,,Du stehst hier ja schon eine halbe Ewigkeit. Wartest du auf jemanden?”
Noch immer etwas irritiert, dass er nicht Rune war, blinzelte ich ihn schweigend an. Dawson trug seine Kampfuniform, vermutlich hatte er bis gerade eben Wachdienst gehabt. Den Schatten unter seinen Augen nach zu urteilen, bereits seit heute Nacht.
,,Ich warte auf Rune”, gab ich schließlich ehrlich zu, weil Dawson bisher noch keinen bissigen Kommentar von sich gegeben hatte. ,,Wir waren hier eigentlich verabredet…” Verlegen biss ich mir auf die Lippe.
Dawson runzelte die Stirn, seinen Blick konnte ich richtig deuten. ,,Hör mal, Cleo…” Ein ungutes Gefühl erwachte in mir und sorgte dafür, dass mir ein Schauer über den Rücken fuhr. Dawsons Tonlage machte mich misstrauisch - als würde er gleich etwas sagen, dass mir nicht gefallen würde.
Er seufzte, ehe er weitersprach. ,,Rune ist heute Nacht gegangen und bisher ist er noch nicht zurückgekommen.”
Mit großen Augen sah ich ihn an. Mein Herz begann sein Tempo zu erhöhen und irgendwas… irgendwas stimmte an der Art, wie er die Aussage formuliert hatte, nicht. Als wäre Rune nicht mal eben zu einem nächtlichen Spaziergang aufgebrochen, sondern… Ich krampfte die Hände zu Fäusten zusammen. Aber das würde er nicht tun, oder? Er würde nicht einfach gehen, ohne mir etwas zu sagen. Ohne sich zu verabschieden. Wo er mich doch gefragt hatte…
,,Er ist nicht zurückgekommen?”, wiederholte ich heiser.
Dawson schüttelte bedauernd den Kopf. ,,Bisher nicht, nein. Er hatte eine große Tasche dabei. Vielleicht… Vielleicht solltest du das wissen.”
Ich versuchte, den immer größer werdenden Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, aber es gelang mir nicht. Wie gebannt starrte ich auf den Eingang, vor dem schwarzgekleidete Wachen standen und sich unterhielten. Ich starrte dorthin und hoffte, dass plötzlich ein Wikinger an ihnen vorbeigehen würde, weil Rune sich niemals ohne Verabschiedung, ohne ein Wort, einfach so verpissen würde.
Aber Rune kam nicht. An diesem Tag, und auch an den darauffolgenden nicht. Egal, wie sehr ich auch hoffte einen Wikinger auf dem Campus zu sehen oder ihm auf den Gängen des Internats zu begegnen - er war verschwunden. Einfach weg.
Zuerst war ich wütend. Wütend, weil er es nicht für nötig gehalten hatte, sich zu verabschieden. Wütend, weil er einfach gegangen war, weil die Götter es ihm so befohlen hatten.
Aber die angenehmere Wut hielt nicht lange an. Stattdessen wich sie maßloser Enttäuschung und dem Gedanken, dass ich nicht einmal wusste, ob ich Rune jemals wieder sehen würde. Ich wusste ehrlich nicht, was ich getan hätte, wenn Rev nicht beschlossen hätte, mir nicht mehr von der Seite zu weichen. Er schleifte mich zwei Mal täglich in die Kantine und nötigte mich dazu, meinen Teller leer zu essen und gestern hatte er außerdem beschlossen, bei mir zu schlafen. Vorübergehend, wie er erklärt hatte.
Aus irgendeinem Grund zog er es vor, neben meinem Bett auf dem Boden zu schlafen, statt jenes, das Chris gehört hatte, zu beziehen. Ich war froh, dass Rev bei mir war. Seine ständige Anwesenheit schien die Leere in mir etwas erträglicher zu machen und mir blieb weniger Zeit zum Grübeln. Beispielsweise darüber, warum es sich so anfühlte, als hätte ich nicht nur einen guten Freund verloren.
,,Er hatte bestimmt einfach keine andere Wahl”, sagte Rev. Er stupste mich mit seinem rosa Plüscheinhorn Hufi an und setzte es anschließend auf meine Schulter. Das sagte er nicht zum ersten Mal. Wahrscheinlich hatte er recht, aber das machte es nicht besser. Rune hätte sich trotzdem verabschieden können. Ich hätte mich darauf vorbereiten können und ihm womöglich ein Handy kaufen können - so eins für Rentner. Dann hätte er sich wenigstens hin und wieder melden können. Aber nein…
Eigentlich wollte ich die Hände zu Fäusten ballen, stattdessen strich ich über Hufis flauschiges Fell. ,,Ich hasse die Götter”, stieß ich schließlich hervor. ,,Und ich hasse diesen beschissenen, treudoofen Wikinger…” Ich schniefte. Nicht schon wieder.
Rev sprang von seinem Kissenlager auf dem Boden auf. ,,Oh nein, Cleo!” Er ließ sich neben mir auf das Bett fallen und legte einen Arm um mich. Der vertraute Geruch nach Erdbeere und Rauch stieg mir in die Nase. ,,Du weißt, dass ich dich ganz doll lieb habe, oder?” Er drückte mich noch etwas fester.
Mit glänzenden Augen sah ich ihn an. ,,Ja”, flüsterte ich. ,,Ich hab dich auch ganz doll lieb.”
Rev sah mich nachdenklich an, während er den freien Arm ausstreckte, um Hufi über den Kopf zu streicheln. ,,Ich hasse die Götter auch. Seth ist der einzig coole gewesen, den ich bisher getroffen habe.”
Ich sah ihn stirnrunzelnd an. ,,Ist Seth nicht der einzige Gott, den du bisher getroffen hast?”
,,Ja”, erwiderte Rev und schenkte mir ein leicht bekifftes Lächeln. Dann wurde sein Blick aber etwas ernster und er sah mich nachdenklich an. ,,Vielleicht sollten wir einfach gehen.”
,,Gehen?”, wiederholte ich etwas irritiert.
,,Weg von hier”, erwiderte Rev. ,,Irgendwohin, wo niemand Götter mag und man nicht ständig versucht, mir mein Gras wegzunehmen.”
Ich erwiderte darauf nichts, aber Rev hatte dennoch etwas angesprochen, worüber auch ich bereits mehrfach nachgedacht hatte. Vielleicht sollte ich einfach gehen. Weit weg von diesem Krieg, dem Tod, den Göttern. Mittlerweile gab es einen Grund weniger, der mich hier hielt. Ich lehnte den Kopf gegen Revs Schulter und schloss die Augen. ,,Danke, dass du da bist.”
Er drückte etwas unbeholfen meine Schulter. ,,Immer, Cleo. Immer.”
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Inferno - Todessohn III
FantasyDas Mädchen, das den Anführer der Rebellen bezwungen hat - ein Ruf, auf den Cleo alles andere als stolz ist. Am Internat wird sie dafür gefeiert, die durch die Rebellen drohende Gefahr abgewendet zu haben. Ohne ihren Gott bricht die Rebellion langsa...