Im Vergleich zu den Anderen hatte er wahrscheinlich zu viel Gepäck dabei, weswegen er an manchen Tagen in den kleinen Orten zweimal angesehen wurde. Der urtümliche Rucksack, größer wie sein Oberkörper und breiter, im festen Lila und Knallblau und die schmale, ungewöhnliche Rolltasche in seiner rechten Hand hängend, begleiteten ihn wie treue Freunde. Die meisten Sachen brauchte er eigentlich gar nicht, sie waren den Tiefen des großen Rucksackes geweiht und nur an den leisen Abenden öffnete er ihn und holte einige Dinge heraus. Bilder, zum Beispiel, Erinnerungen in Form von Notizen, Zeitschriften, Schulheften oder den Titelblättern von Lieblingsfilmen. Er holte sie heraus und wurde nie satt, sie zu betrachten und auch nach vielen Abenden, die er so vor sich hin schwelgte, gingen sie ihm noch nicht aus. Er hatte auch Kerzen dabei, Bilderrahmen oder Leckereien für Katzen, für die vielen Gelegenheiten, die nie kamen und davon haufenweise. Natürlich beinhaltete dieser Rucksack auch allerlei Nützliches, doch auf die Gelegenheit noch nie nützlich Gekommenes, wie Telefonbuch und Mobiltelefon, Kamera, Taschenmesser, Streichhölzer, Sonnenbrille oder Insektenspray, alles wurde noch nie benutzt und er wollte die Dinge auch nicht benutzen. Sie lagen frisch gekauft vor der Reise, so neu und teuer in seiner Tasche, dass er sie nicht anrühren wollte. Er wollte sie nur dabei haben. Das Gewicht in der Tasche spüren. Den Sog, der ihn eines Tages wieder nach Hause schwemmen würde, auf den er nicht verzichten wollte, ja fast schon brauchte. Er kettete sich ein, mit diesen Erinnerungen und fühlte sich selbstsicher, weil er sie noch nicht brauchte, verkettete sich, um sich freier zu fühlen.
Die Dinge, die er wirklich benutzte, abgesehen von Kleidung oder Ausweis in der Rolltasche, waren sicher und fest an seinem Körper verstaut. Ein welkes Heft, in das er gerne Verse schrieb und der Bleistift mit dem Anspitzer, fanden wie das Asthmagerät in seiner Jackeninnentasche Platz, Adressen ruhten auf Notizzetteln an seiner Haut, innerhalb der Halbhandschuhen und die Landkarten in den Ärmeln seines Oberteils. Die Mütze, die er trug, war nur da, um schnell Geldscheine herausholen zu können, um nicht lange mit dem Verkäufer reden zu müssen, in seinen Hosentaschen klimperten die Münzen.
Neben seinem Versheft hatte er die aufgesammelten Dinge am Liebsten. Sie waren in den weiteren Taschen seiner olivgrünen Jacke verteilt. Sterbende Blätter, die in seinen Schoß gefallen waren, Blumen, die er von Wegen und Gärten abgepflückt hatte, Knöpfe oder Bierdeckel – an all solchen Nichtigkeiten fand er seinen Gefallen und schützte sie, als hinge sein Herz an ihnen.
Und abgesehen seiner Taschen, unterschied er sich in weiteren, sogar ansatzweise grundsätzlichen Eigenschaften, von den anderen Rucksacktouristen. Seine Abenteuerlust, die Wanderlust, die trieb ihn weg von den Menschen, weg von den Zentralstädten und Touristenorten, weg von famosen Naturwegen, weit weg, von den Leuten seinesgleichen, die tief im Herzen überhaupt nicht Seinesgleichen waren. Er lief, als hätte er ein großes Ziel, durch die bescheidensten Dörfer, verschuldete Städte, aussichtslose Feldwege und an simplen Autobahnen entlang, sodass jeder sagen musste: „Was macht denn der Bursch hier? Unser Dorf hat doch nichts zum Anschaun'!", und man antwortete darauf „Der is' doch bestimmt aufm' Weg zur berühmten Höhle", oder „Der will doch bestimmt zur Aussichtsplattform, oben aufm Berg".
Es war ihm jedoch nie im Sinn gewesen solche Orte zu bereisen, fürchtete sich in den Touristenrestaurants einzukehren oder in eine berühmte Hotelkette, in dem man ihm diese Orte empfehlen würde. Sein Ziel, war der Weg, auf dem er lief, der nächste Ort, an den er laufen würde, war immer der, vor seinen Augen und das nächste Hotel, in dass er einkehren würde, war sein eigenes Zelt, vielleicht an einer kleinen Grillstelle oder auch ein gleichgültiges Hotel, das gleichgültigste, das er finden konnte. Eines, bei dem ihm keine Fragen gestellt werden würde.
Ach, wie er Fragen hasste!
Einmal hatte er nicht aufgepasst, war direkt in die Falle gelaufen. Seine Füße waren wund, wie nie und er fand sich in diesem traditionellen Dorf unwohl, als würde man ihn in die falsche Form drücken. Sein Herz schlug schneller, kamen Eigenständige oder Schüler seinen Weg entgegen, er irrte gehetzt an die nächste Bushaltestelle und wartete ruhelos auf den nächsten Bus. Er hatte das Gefühl, hier könnte man ihn ansehen, beschuldigen, richten und beurteilen, weil er nicht hierher gehörte und auch nicht woanders, weil er keine Heimat hat und weil er zum Scheitern verurteilt war, hier, daheim und überall. Und dann fand ihn wirklich einer, ein Erwachsener, mit Ehering und Hemd, kleiner, als der Touristenjunge samt Rucksack, der über seinen Kopf ragte.
„Sind ja ganz schon viele Taschen, die Sie dabeihaben", bemerkte der Mann, „wohin wollen sie denn?" „Karlsruhe", antwortete er schwach, dem Heulen näher als den geforderten Worten, den Schmerzen in seiner Seele verschrieben, die sich unwohl windete, wie ein Fisch, der zum Fressen vorgeworfen wurde.
„Karlsruhe! Schön, schön. Und was machens' dort? Ich wett' Sie wollen zum Schloss!" Der Mann lachte, als kenne er die Welt, als sei er erfahren, „Da wollen alle immer hin."
„Ja", brachte er mühsam heraus, „zum Schloss". Er war plötzlich wieder der Junge, dem sie die Brotbox aus der Hand rissen, der Junge, der an die Tafel gerufen wurde, obwohl er nichts wusste. Er fühlte die Tritte an seinen Schienenbeinen im Sportunterricht und die Schläge, weil er ungezogen war. Er hatte tief im Innern genau gewusst, dass dieses Gefühl wiederkommen würde, und deshalb hatte er die Fremden gemieden, schützte sich vor Augen, die sich ein Bild von ihm machen würden, Vorurteile bilden würden.
Denn sein Herz war hundert Male öffentlich hingerichtet worden, in diesem Moment wieder und Scham schoss durch ihn hindurch, durch seine Muskeln und seine Adern und brannte wie Gift. Es fühlte sich so an, als wäre er wieder daheim, es fühlte sich an, als würde seine Seele zerdrückt werden.
Der Mann dachte nur, wie schüchtern, der Junge wirkte, so jung plötzlich. Er wich zurück. „Wissen Sie, ich hab 'ne Tochter, die ist grad in ihrem Alter, reist auch herum, macht ihre Sache und lässt den alten Mann zu Hause." Er lachte wieder, kämpfte um Sympathie. „Dacht' ich könnt' versuchen mit Gleichaltrigen zu reden, ich alter Kauz, um auf dem neuen Stand zu bleiben, verstehn' Sie?" Er spürte die Verletzlichkeit seines Gesprächspartners immer mehr, verzweifelte und seine Stimmer wurde lauter. „Naja, dann haben sie Vergnügen in Karlsruhe! Und wenn sie meine Tochter antreffen, müssen Sie sie grüßen", krampfhaft lachte er, um seinen Scherz zu beteuern und verließ den Jungen noch in diesem Moment, mit Schuldgefühlen und mit Sorge, ob es ihm denn gut gehen würde, ob er denn irgendwas Falsches gesagt hatte.
Dieser atmete auf, in der dünnen Luft, hatte auch Schuldgefühle in sich, weil einem Jungen wie ihm, würde die Verzweiflung des Mannes auf hundert Meter noch auffallen, seine Angst in seinem noch flatterndem Herzen jedoch, verdrängte das Schamgefühl. Denn er trug das Gefühl des Fallens in sich und keine Sicherheit in seiner Tasche konnte ihn davor schützen. Rastlos in seinen Gedanken, wartete er auf den Bus. Erst fühlte er sich wieder frei, als er das Ortsschild hinter sich gelassen hatte.
Pastellene Farben bemalten den Ort, umstrichen sein Herz, als er sein Zelt aufgebaut hatte. Gepäckslos lehnte er sich an einen nahestehenden Baum, sah ohne Rucksack um vieles kleiner aus, ohne die Jacke, die er auf das Moos gelegt hatte, um sich darauf zu setzen, um so vieles zärtlicher. Leise holte er das Buch unter seinen Beinen hervor und den Stift, spürte das Paradies seiner Gedankenfarben wiederkehren, erkannte sich selbst wieder und freute sich, ließ die Wärme in sein Herz, trieb in der Stille, wie der glücklichste Fischer auf dem Meer, zeichnete und schrieb, um seinen plötzlichen Gedanken Form zu geben, die in seine Seele heimgekehrt waren, wie der verschollene Sohn eines Vaters. Er las in alten Notizen, vervollständigte sie, schrieb neue und las wieder und es fühlte sich an, als würde er sich Schicht um Schicht ein wohles Gefühl aneignen, an Sicherheit gewinnen und diese mit jedem seiner Gedanken verstärken.
Sanft pustete er eine Ameise weg, die blitzschnell über die Zeilen rann und lächelte leise, warme Falten um seine zarten Augen bildend, fühlte er sich, als hätte er das Glück verschluckt und es schwindelte ihn, als hätte er den Sinn gesehen, der ihn an Orte, wie diese trieb. Er träumte bis zum Horizont und weiter, träumte sich in die Zeilen hinein, tanzte zwischen ihnen, wie ein anmutiger Prinz auf einem Ball. Und er spielte mit Worten und Sätzen, wie ein Pianist mit Melodien, schloss die Augen und verfiel dem Sinn eines einzigen Satzes, tief, wie das unendliche Meer, versank er in die Bedeutung, erweiterte sie, umschwärmte sie und schwamm hinüber zur nächsten, konnte nicht genug kriegen, von den Sätzen und Worten in seinem Kopf, nie genug von der Essenz, zwischen den Zeilen.
Wer weiß, wann er nach Hause zurückkehren würde. Wann ihm die Gegenstände und Erinnerungen, in seinem unendlich scheinenden Rucksack, ausgehen würden. Wann er genug vom Flüchten und Verstecken hatte. Wann ihm keine Worte mehr einfallen würden.
Und wenn man dies so betrachtet, würde er wahrscheinlich nie nach Hause zurückkehren.
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Um Meinungen oder Ratschlägen wär ich riesig dankbar. ♥
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Gedanken im Gepäck (2015)
Short StoryDie Geschichte eines Wanderers, der aus den Horizonten seiner Gedanken lebte, statt aus den Tiefen seines Rucksacks.