Verbissen starrte Khione auf die Schriftzeichen aus der vor ihr liegenden Schriftrolle und versuchte, sie zu entziffern. Es fiel ihr nicht leicht, die fast gleichaussehenden Zeichen auf dem ausgeblichenen, gelblichen Papier auseinanderzuhalten. Sie konnte nicht fassen, dass es für Kinder in einfacher Sprache geschrieben war. Durch die handgemalten Bilder war zwar einiges zu erraten, aber das war nicht der Sinn und Zweck. Langsam bezweifelte Khione jemals in der Lage zu sein, das Wirrwarr an Strichen zu beherrschen.
Es wäre gelogen, die Unterrichtsstunden bei Kabiha oder Tehew als spaßig zu bezeichnen. Es war nicht, weil sie unhöflich ihr gegenüber waren, sondern nichts war ihr mehr verhasst, als stillzusitzen und stur auswendig zu lernen. Sie fand es unendlich langweilig. Dank ihrer Eltern war sie eher für die Praxis geeignet und brauchte Bewegung.
Leise seufzend schob sich Khione eine Haarsträhne hinter das Ohr und warf Kabiha einen kurzen Seitenblick zu. Diese saß ihr gegenüber und stickte etwas auf ein ledernes Oberteil. Geschickt führte sie die Nadel durch das Material und erzeugte dadurch Ornamente in verschiedenen Farben. Sie schien in Gedanken versunken zu sein und an sich mochte Khione ihre ruhige Art, aber es ließ sie oft hibbelig werden. Wie hielt Kabiha es nur aus, die meiste Zeit in der Burg zu sein? Khione würde verrückt werden!
„Kann ich bitte das Fenster öffnen?", fragte sie höflich. Am besten schlief sie, wenn die Balkontür einen Spalt geöffnet war. Sobald sie geschlossen war, fühlte sie sich eingesperrt und so, als würde sie nicht atmen können. Vor allem in der Bibliothek mit ihren vollgestellten, dunklen Regalen. Es grauste Khione vorm Winter, in dem sie auf die frische Luft in der Nacht verzichten musste.
„Natürlich", sagte Kabiha und sah kurz von ihrer Arbeit auf. „Wie kommst du voran?"
„Nicht wie erhofft", gab Khione widerwillig zu und erhob sich. „Heute fällt es mir besonders schwer, die Schriftzeichen auseinanderzuhalten", antwortete sie und löste den Riegel des Fensters. Mit einem kleinen Ruck öffnete sie es einen Spalt und sog tief die frische Luft ein.
„Bedrückt dich etwas, Kind?"
Langsam schüttelte Khione den Kopf und verneinte. Oder doch, sie zweifelte an sich und ihrer Zukunft, aber sie wollte nicht für eine Jammerliese gehalten werden.
„Am besten gehen wir einen Schritt zurück und fangen wieder mit dem Alphabet an", schlug Kabiha vor, ohne herablassend zu klingen.
Überrascht drehte sich Khione zu ihr um, blieb aber am Fenster stehen, um den frischen Luftzug zu genießen. Er half sofort, die Wolke in ihrem Kopf zu lösen. Sie lauschte dem Vogelgezwitscher, das sie unruhig werden ließ. Wie sehr sehnte sich Khione danach, draußen bei den anderen zu sein ... Trotz der Kommunikationsschwierigkeiten fühlte sie sich dort wohler. Erst recht, weil Sabah ihr Versprechen eingehalten und niemandem ihren Geburtstag verraten hatte. Nur von ihr hatte sie am Morgen eine enge Umarmung und zwei Küsse sowie einen Blumenstrauß aus dem Garten bekommen. Da Makhahs Schwester jedoch oft mit den Blumen farbige Tupfer in der Burg verteilte, fiel das nicht weiter auf.
„Wirklich?", fragte sie vorsichtig, da sie nicht damit gerechnet hatte, auf so viel Verständnis zu stoßen. Es war ihr peinlich und sie nahm an, für dumm und unzurechnungsfähig gehalten zu werden, doch Kabiha war geduldig und nett.
„Ich weiß, wie unterschiedlich unsere Sprachen sind und, dass du sehr viel Neues lernen musst", sagte Kabiha und legte ihre Arbeit zur Seite. In einer eleganten Bewegung stand sie auf und kam auf Khione zu. Wie alle weiblichen Arakis besaß sie eine Anmut, die Khione den Barbaren des Nordens nicht zugetraut hatte. Mit einem Lächeln auf ihren Lippen strich Kabiha ihr über die Wange. „Du gibst dir Mühe und wirst es sicher lernen", meinte sie aufmunternd.
Zaghaft erwiderte Khione die Geste. Anfangs hatte sie Angst gehabt, dass Tehews Frau sie mit Abneigung behandeln würde, weil seine Schwester ums Leben gekommen war, doch der Eindruck hatte getäuscht. „Danke", flüsterte sie erleichtert.
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Araki - Krieger des Nordens
RomanceAraki - die barbarische Rasse im Norden der Welt Azura. Ausgerechnet von ihnen wird die junge Khione auf ihrer Flucht vor den Entführern mit einem Pfeil abgeschossen. Schnell wird ihr klar, wie unerwünscht und gehasst sie im Araki-Clan von Shiharu M...