46 - Der Schatz

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 Nachdem alle Pläne der Nacht an Kleinigkeiten gescheitert waren, hatte Viv noch lange keine Ruhe gefunden. Wie ein gefangenes Raubtier war sie in ihrem Zimmer auf und ab gegangen, bis sie die kühle Nachtluft, das Feuer war schnell erloschen, ins Bett zurückgetrieben hatte. Dort hatte sie dem Prasseln des einsetzenden Regens gelauscht, bis sie letztendlich doch einschlief.

Die Sonne stand bereits am Himmel, als sie erwachte. Das regnerisch feuchte Wetter der letzten Tage schien der Vergangenheit anzugehören. Vor dem Fenster erstreckte sich der Park in satten, leuchtenden Grüntönen. Ein Angestellter rechte die Auffahrt und eine junge Frau ging mit Leinenhäubchen und Schürze und einem großen Korb ums Haus.

Viv zog sich schnell an. Ihre Laune war nach der kurzen, unruhigen Nacht nicht sonderlich gut. Doch ihre Stimmung wirkte sich nicht auf ihren Appetit aus, denn sie hatte Hunger und ging daher ins Speisezimmer, wo sie hoffte noch etwas zum Frühstücken zu bekommen. Tatsächlich fand sie einen gedeckten Tisch und den alten Butler vor, der sich äußerst sparsam vor ihr verneigte.

„Guten Morgen, Miss Lenster. Bitte nehmen Sie Platz, die Familie hat bereits gefrühstückt."

Die Missbilligung über ihre Verspätung war deutlich herauszuhören. Doch Viv hatte weder Lust noch Energie darauf einzugehen.

„Guten Morgen, danke auch", murrte sie lediglich und ließ sich auf einen Stuhl fallen und stützte ihr Kinn in die Hände.

Pelham sah über ihren Mangel an Tischmanieren hinweg, auch wenn sein Gesicht beim Anblick ihrer aufgestützten Ellbogen einen außerordentlich düsteren Ausdruck annahm, und erkundigte sich kühl nach ihren Wünschen. Seine Missbilligung schien sich noch zu steigern, als Viv außer Toast, Marmelade und Tee nichts haben wollte. Den geräucherten Fisch und den Schinken verschmähte sie, ebenso das Schmalzgebäck. Würdevoll zog sich Pelham schließlich zurück und ließ Viv alleine mit ihrem Mahl.

Nach dem Frühstück ging sie in den Salon um zu sehen, ob Hetta dort war. Doch auch dieser Raum war leer. Nur Hettas Handarbeitskorb mit der kniffeligen Stickerei, mit der sie Viv am Vortag gelangweilt hatte, lag offen auf dem Sofa, als wäre Hetta nur kurz hinausgegangen.

Viv wusste nichts mit sich anzufangen, also ging sie im Zimmer herum, zog die Schubladen einer Kommode auf und zu und sah sich den Handarbeitskorb genauer an. Ordentlich aufgewickelte bunte, glänzende Seidengarne quollen heraus. Aber zwischen den Garnen glänzte noch etwas ganz anders in mattem Pastellrosa und Silber.

Viv traute ihren Augen kaum und zog mit spitzen Fingern vorsichtig an der feingliedrigen silbernen Kette und hob sie mit vor Staunen offenem Mund vor ihr Gesicht. Sie hielt den Rosenquarz in ihrer Hand. Als fürchte sie, der magische Stein könne sich in Luft auflösen, schloss Viv ihre Finger darum zur Faust und spürte die glatte Oberfläche. Der Stein nahm sogleich ihre Körpertemperatur an und fühlte sich angenehm und vertraut an. Die Gravuren waren als leichte Erhebungen zu spüren.

Als sie vom Flur her Schritte hörte, steckte sie den Stein schnell ein und beeilte sich an andere Ende des Zimmers zu kommen. Als sich die Tür öffnete, sah es so aus, als bewunderte sie eines der Aquarelle.

„Miss Lenster", sagte Hetta außerordentlich freundlich. „Ich hörte von Pelham, dass Sie bereits gefrühstückt hätten. Ich hoffe, Sie haben sich nicht gelangweilt, so ganz ohne Gesellschaft."

„Nein", sagte Viv und lächelte so freundlich, wie sie konnte, während ihr Herz bis zum Hals schlug, als sie mitansehen musste, wie Hetta auf sie zukam und direkt neben dem Sofa stehen blieb, auf dem der offene Handarbeitskorb lag. Wenn Hetta ihren Stickrahmen zur Hand nahm, würde sie merken, dass der Stein fehlte. „Wunderschönes Wetter heute", fuhr sie fort. „Wie gemacht für einen Spaziergang."

Die Schatten von FerywoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt