I'm trying

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Stille. Unerträglich laute Stille, die sich immer mehr in meinen Gehörgängen einnistete. Sonst war dort nichts. Nicht der leiseste Ton erreichte mich. Alles war totenstill. Der eingeschaltete Fernseher lief im Hintergrund vor sich hin, doch die einzige Person im Raum schenkte ihm nicht das kleinste bisschen Beachtung. Viel zu sehr nahm mich diese unerträgliche Stille ein, als das ich mich auf etwas anderes konzentrieren könnte. Meine gläsernen Augen starrten ins Leere, ohne etwas anzuvisieren. In ihnen lag trostlose Emotionslosigkeit. Genauso emotionslos, wie meine ganze Welt. Die Welt, die ich noch vor nicht mal 24 Stunden durch eine rosa-rote Brille betrachtet und geliebt hatte. Was war geschehen? Wie konnte sich alles auf einen Schlag um 180 grad drehen? Ich wollte schreien, wollte weinen, wollte irgendeine Reaktion meinerseits preisgeben, doch nichts geschah. Ich saß still auf dem Sofa und hörte und sah nichts. Alles war taub. Ein ekliges Gefühl.

Als ich das nächste mal etwas wahrnahm, stand ich im Bad mit einer Zahnbürste in der Hand und in einem Tshirt von...ihm. Der drei-Tage Bart war neu, wo kam der denn jetzt her? Und wo kamen die riesigen Schatten unter meinen Augen her? Gerade saß ich noch auf dem Sofa und-

Ich starrte auf den kleinen See, der sich vor mir erstreckte. Der Halbmond spiegelte sich auf der Wasseroberfläche wieder und wirkte so noch größer und eindrucksvoller. Mit einer Hand zupfte ich einige Grashalme aus der Erde und rollte sie zwischen Daumen und Zeigefinger zu einer kleinen Kugel, die ich dann in den See warf. Der Gras-Ball machte beim durchbrechen der Wasseroberfläche ein leises plopp, bevor er in dem schwarzen Wasser verschwand und auf den Grund des Sees sank.

Vor mir lag ein leeres Blatt Papier und in meiner Hand hielt ich einen dunkelblauen Kugelschreiber. Links von mir, ein halb-leeres Glas Wasser und rechts von mir ein eingerahmtes Bild. Mit zittrigen Händen nahm ich es in die Hand und schaute wehmütig in die zwei strahlenden Gesichter, die eine lustige Grimasse zogen und sichtlich damit zu kämpfen hatten, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Der größere der beiden hatte sich hinter den anderen gestellt und sein Kopf ruhte auf den blond-gefärbten Haaren des kleineren. Dazu waren die Arme des schwarzhaarigen um die Schultern des blondhaarigen gelegt und seine Hände verschränkten sich vor der Brust des kleineren.

Mein Blick klebte seit was weiß ich wie lange an dem Pappbecher in meiner Hand, dessen Inhalt aus einer heißen, schwarzen Flüssigkeit bestand. In meiner anderen Hand hielt ich einen Zettel und einen dunkelblauen Kugelschreiber. Irgendwoher kannte ich diese Gegenstände. Auf dem Zettel standen ein paar wenige Wörter, viele davon durchgestrichen. Ich stellte den Becher zur Seite und fügte 10 weitere Wörter dem spärlichen Text hinzu.

Mit einem Kamm fuhr ich mir noch ein letztes Mal durch meine Haare. Mein Blick glitt über mein Spiegelbild, welches mir einen kleinen, blonden Mann in einem schwarzen Sakko mit einer roten Rose in der Tasche zeigte. Die Rose war ein wenig verrutscht und drohte aus der kleinen Tasche zu fallen, weswegen ich sie schnell wieder in die vorherige Position brachte. Ich strich über den Rand des kleinen Anhängers an meiner silbernen Kette. Das kalte Metal glühte förmlich in meiner Hand, weswegen ich ihn schnell wieder unter meinem Sakko versteckte. Mein Herz pochte automatisch schneller, als das kalte etwas meine Haut berührte. Mein Atem beschleunigte sich rapide und ich setzte mich auf den Boden, in der Angst ansonsten gleich umzukippen.

Viele traurige Gesichter. Alt, jung, klein, groß. Sie alle trauerten sichtlich. Ich tat es auch, nur nicht offensichtlich. Ich hatte ein leichtes Lächeln aufgesetzt und versuchte die Leute so gut es ging aufzumuntern, worüber mir einige sichtlich dankbar waren. Die Zeit schritt voran und ehe ich mich versah, stand ich vor dem hölzernen Sarg aus Eiche. Er war geöffnet, um jeden noch ein letztes Mal daran zu erinnern, welch wundervolle Person sie danach nie wieder sehen werden. Nun war ich dran. Ich holte den leicht zerknitterten Zettel aus meiner Hosentasche und schob ihn unter das Kissen, auf welchem der Kopf des schwarzhaarigen ruhte. Die Gesichtszüge waren entspannt, so als würde er schlafen. Mein Lächeln war nicht verschwunden, selbst hier nicht. Langsam glitt meine Hand zu meinem Sakko, zog die kleine, rote Rose aus der Tasche und legte sie unter seine kalte Hand. Einen kurzen Moment verweilte ich so, strich leicht mit meinem Daumen über seinen Handrücken und sah in Gedanken versunken auf unsere Hände. Dann erhob ich mich schweren Herzens, um der nächsten Person die Chance zu geben, sich zu verabschieden. Ich hatte den Brief geschrieben um dies zu tun. Ich schaffte es nicht zu ihm oder über ihn zu sprechen. Schon lange nicht mehr.

Ich lächelte zum Abschied noch ein letzte mal in ihre Gesichter, bevor ich die Tür schloss und zu meinem Auto ging. Ich hatte mich kaum auf den Sitz fallen gelassen, als plötzlich alles auf mich nieder prasselte. Und zwar wirklich alles. Der Unfall, die Tage, Wochen, sogar ganze Monate danach. Alles was mich nicht erreicht hatte, schlug mit einem Mal auf mich ein, wie ein nie enden wollender Steinschlag von einem Berghang. Plötzlich nahm ich alles war, Farben, Geräusche, Gerüche, einfach alles. Verzweifelt rang ich nach Luft, während unaufhaltsame Tränenströme mein Gesicht herunter liefen. Ich schnappte immer wieder nach Luft, wie ein ertrinkender der nur alle paar Sekunden an die Wasseroberfläche gelangte, bevor die tosenden Wellen ihn wieder verschluckten. Unbeholfen öffnete ich die Tür meines Autos und stolperte in das kleine, anliegende Wäldchen. Ich rannte so schnell es mir möglich war an den schier unzähligen Bäumen vorbei, bis mein Körper irgendwann nachgab und mich zu Boden zwang. Abermals rang ich nach Luft, während mir nebenbei laute, ungehemmte Schluchzer entkamen. Ich schaute nach oben in den Himmel, bis meine Atmung sich wieder halbwegs beruhigte. Ich lehnte mich erschöpft an einen breiten Baumstamm und sah mit verschleierter Sicht in den wolkenlosen Sternenhimmel. Meine Schluchzer wurden wieder mehr und unter Tränen erstickt flüsterte ich

Ich versuche es Basti. Ich versuche der Mann zu sein, den du geliebt hast.

I'm trying // Bastiplatte Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt