-2- Von Freundschaft und Feindschaft

69 12 57
                                    

„Habt ihr das auch gehört?", fragte ich auf dem Rückweg.

„Was denn?", kam die Gegenfrage von Henry.

„Die Vögel."

„Wir sind im Wald. Natürlich gibt es hier Vögel. Ich würde mir eher Sorgen machen, wenn sie nicht da wären."

„Aber heute waren es übermäßig viele. Und nur Raben. Wir waren früher oft hier und da ist mir das nie so aufgefallen."

„Naja", sagte Lina. „Vielleicht hast du es einfach nur vergessen. Oder es hat sich verändert. Wir sind schließlich in der Natur, da bleibt nichts lange so, wie es mal war."

Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht hatte ich mich auf die Vögel konzentriert, um mich abzulenken. Trotzdem verschwand das Gefühl nicht, dass mehr daran hing.

***

Wir fuhren zu unserem Lieblingsitaliener. Dort angekommen, bestand Henry darauf, sich auf die Terrasse zu setzen.

„Das ist der wärmste Tag des bisherigen Jahres, das müssen wir doch ausnutzen!", sagte er in seiner üblichen, gut gelaunten Art.

Wir setzten uns an einen Tisch, von dem aus man in den angrenzenden Park sehen konnte. Dann bestellten wir Getränke. Sie kamen schnell.

„Auf das Abi, das wir alle schaffen werden!", Henry hob sein Glas zum Anstoßen.

„Auf uns", sagte Ben.

„Auf die Freundschaft", Lina hob ihr Glas.

„Und auf Menschen, die wir verloren haben.", setzte ich nach. Das Glas war kühl zwischen meinen Fingern. Ich hatte den Satz ohne große Traurigkeit über die Lippen gebracht, lächelte sogar. Scheinbar nahm die Zeit der Trauer langsam, aber sicher ein Ende und das Leben konnte weitergehen. Vielleicht war mein Zusammenbruch heute Morgen der letzte, den ich jemals haben würde. Vielleicht konnte ich meine Gedanken nun bewusster steuern. Denn bis jetzt hatte ich nicht mehr an Olivia gedacht.

Und während wir anstießen, hatte ich ein herzerwärmendes Gefühl. Etwas, das ich lange nicht mehr gespürt hatte: Dazugehörigkeit. Als die Gläser aneinanderstießen, wünschte ich mir, dieser Augenblick würde niemals enden.

Aber natürlich ging auch dieser Moment einmal vorbei und was blieb, war die Erinnerung.

Lina hatte die zwei anderen bereits nach Hause gefahren und nun standen Lina und ich in ihrem Auto vor dem Haus meiner Eltern.

„Ist ja doch noch ein schöner Tag geworden", sagte ich. „Das hätte ich heute Morgen nicht gedacht..."

„Schön! Man sollte den ganzen Tag eben noch nicht abschreiben, nur weil der Morgen...nicht so toll war."

Mir entging nicht, wie vorsichtig sie ihre Worte wählte. Lina wusste eben, dass sie sich auf schwieriges Terrain begab, und dafür war ich ihr dankbar.

„Du hast ja recht. Aber schade, dass die schönen Augenblicke immer so schnell vorbeigehen. Und die schlechten..." Den Satz ließ ich im Nichts enden.

„Aber weißt du was? Die Erinnerungen an diese Augenblicke hast du immer. Und dafür kannst du doch echt dankbar sein."

„..Außer man bekommt Alzheimer...", ich legte einen Hauch von Schmunzeln in ihre Stimme.

„Da hast du recht...", Linas Stimme hatte nun auch einen humorvollen Ton angeschlagen, „...aber du weißt ja: neue Wege gehen, Alzheimer vorbeugen!"

„Und wenn ich mich dabei verlaufe?"

„Dann machst du es eben wie Hänsel und Gretel und legst eine Spur!"

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt