Draußen war es dunkel. Nicht nur, weil es Nacht war, sondern auch, weil der Himmel zusätzlich von Wolken bedeckt wurde. Wetterleuchten erhellte den Horizont. Die salzige, klare Luft strömte in meine Lunge.
Jetzt, wo wir wieder Land unter den Füßen hatten, merkte ich erst, wie unsicher ich mich die ganze Fahrt über gefühlt hatte. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber dennoch hätten wir jederzeit untergehen und im schlimmsten Fall ertrinken können. Wenn man ein Schiff innerhalb einer Woche baute, war die Wahrscheinlichkeit doch groß, dass Fehler passierten, Magie hin oder her. Außerdem hatte ich nirgends ein Beiboot gesehen ... Wir hatten Land erreicht, diese Gefahr war also vorbei. Solange wir nicht wieder weiterfuhren. Warum sollte ich mich also jetzt damit beschäftigen?
Ein paar Meter vor der Havsropen verlief ein großer, schroffer Felsbogen vom Meer zum Ufer. Das Schiff hätte problemlos darunter hindurch gepasst. Es wirkte wie ein Tor in eine andere Welt, gerade auch deshalb, weil dies der einzige Felsen in der Gegend war. Die Wellen schlugen gegen das Gestein.
Wir hatten ein paar Schritte durch das Wasser laufen müssen, bevor wir am Ufer angekommen waren. Jetzt waren meine Stiefel nass. Jeder Schritt wurde von einem schmatzenden Geräusch in den Schuhen begleitet und meine Füße konnte ich nicht mehr spüren. Ich zog die Stiefel aus.
Arokin war vorausgelaufen, zu dem Bogen, dort, wo er in der Erde versank. Der Bogen war erstaunlich breit. Wir alle, inklusive der Pferde, passten problemlos darunter. Das Wasser glitt gute zwanzig Meter vor uns langsam an den Sandstand.
„Wir sollten erstmal hierbleiben und eine Pause machen." Asir setzte sich in den Sand, nachdem er seinen Umhang auf dem Boden ausgebreitet hatte.
Sophie ließ sich ebenfalls zu Boden sinken. Ein bisschen zu schnell, wie ich fand.
„Geht es dir wirklich gut?" Ein klein wenig Angst vor der Antwort beschlich mich, aber ausgesprochen konnte ich die Frage nicht mehr ungeschehen machen.
Sie nickte. „Ich bin nur hundemüde." Dann legte sie sich hin und bald darauf hörte ich sie regelmäßig atmen.
„Scheinbar können sie wirklich kein Gift mischen." Arokin sah sie an.
Ich holte ein Stück getrocknetes Fleisch, das ich in einer Tasche aufbewahrte, und kaute darauf herum. Arokin und Asir holten in der Zeit die restlichen Sachen vom Schiff. Eigentlich gab es nur noch die Kiste und ich fragte mich, wie wir sie transportieren sollten. Sie passte unmöglich auf eines der Pferde. In ihrem Inneren befanden sich unsere Waffen und ein paar andere Dinge, wie Decken und weitere Vorräte.
Es fiel mir schwer, das Essen herunterzubekommen. Nach einer viel zu langen Zeit schaffte ich es aber doch. Arokin stand bei den Pferden und schaute nach ihnen.
Auch wenn es Nacht war, war es warm und hell genug, dass wir kein Feuer brauchten. Die Wolken hatten sich verzogen, der Mond schien auf das Meer und beleuchtete die Umgebung.
„Meinst du wirklich, dass sich Arokin gegen uns wenden könnte?" Meine Stimme war kaum mehr als ein Hauch. Ich sah in seine Richtung, wie er sich um die Pferde kümmerte. Diese Möglichkeit kam mir plötzlich so unwahrscheinlich vor, als würde ich fliegen können. Was ich, so begriff ich, sogar schonmal gemacht hatte. Auch, wenn ich nicht ich selbst gewesen war.
Du denkst immer noch zu laut. Ich muss dir unbedingt zeigen, wie du das steuern kannst. Ich hoffe nicht, dass Arokin von der Macht verführt wurde. Ich weiß nur das, was Xylath mir gezeigt hat. Ich habe gesehen wie er bereits andere Menschen aus deiner Welt genommen hat. Sie haben es nie hierhergeschafft. Ich weiß auch, dass es besser ist, mit dem Schlimmsten zu rechnen.
Das hätte ich sagen können, kam mir der Gedanke.
Schließlich wurde ich von der Erschöpfung übermannt, die mich unterschwellig bereits seit Olivias Befreiung begleitete. Ich rollte mich auf dem Umhang zusammen und versuchte, mich damit zuzudecken.
„Ich bin müde. Gute Nacht", brachte ich noch hervor. Dann war ich eingeschlafen. Mir blieb keine Gelegenheit dazu, noch über irgendetwas nachzudenken.
***
Ungewöhnlich kühle Sonnenstrahlen berührten mein Gesicht, als ich aufwachte. Die Sonne stand noch tief am Horizont. Das leise Rauschen der Wellen drang an meine Ohren. Es war ein ruhiger Schlaf gewesen, ohne Träume. Und auch, wenn ich nicht lange geschlafen haben konnte, fühlte ich mich ausgeruht.
Sophie und Arokin schliefen immer noch, Asir saß noch genauso da wie heute Nacht.
„Hast du gar nicht geschlafen?" Ich setzte mich langsam auf.
„Fast nicht. Einer muss ja aufpassen. Vielleicht schickt Madira doch noch jemanden hinter uns her." Er klang abwesend und zuckte mit den Schultern.
„Wenn sie Olivia gefangen hatte, ist diese Madira nicht vielleicht die, die hinter der Macht her ist? Vielleicht hängt das alles zusammen. Es hat vor zwei Jahren angefangen. Vor zwei Jahren hat meine Schwester sich umgebracht Vielleicht ist Olivia eine Göttin?" Ich dachte an den Blick, den sie mir zugeworfen hatte, nachdem ich sie befreit hatte. Ich erzählte ihm auch davon. „Wenn sie keine Göttin ist? Sondern sich auch nur die Macht holen will, obwohl sie ihr nicht zusteht? Vielleicht um sich wiederzubeleben ? Aber was passiert dann mit ihr?"
„Wahrscheinlich könnte sie noch viel mehr damit anstellen, als das. Wenn auch nur für kurze Zeit. Sie würde sterben, diesmal mitsamt ihrer Seele, früher, als ihr lieb ist. Das ist der Preis, den jeder für die Macht bezahlen muss. Selbst die Götter, irgendwann. Den Preis will aber niemand sehen. Immer nur die Bereicherung." Er hielt kurz inne, ehe er weitersprach. „Aber wenn sie ein niemand wäre, warum sollte sich jemand die Mühe machen, ihre Seele gefangenzunehmen?"
„Vielleicht war sie auch einfach wütend, weil jemand hinter ihrer Macht her ist ... Heißt das, sie ist am Ende wütend auf deinen Bruder?" Es war seltsam den Gedanken auszusprechen.
„Möglich ist alles. Am besten, wir begegnen Fremden erstmal mit Misstrauen."
Ich hatte nie etwas anders getan, seit ein paar Jahren zumindest.
Hinter mir hörte ich, wie sich jemand bewegte. Arokin stand auf und sah zum Himmel. „Wir sollten uns beeilen. Wir haben genug Zeit verschwendet."
Vermutlich hatte er recht. Denn schließlich war es immer noch unsere Aufgabe, die Welten zu retten. Bei dem ganzen Drumherum durfte ich das eigentliche Ziel nicht aus den Augen verlieren. Aber als ich zu Sophie ging, um sie mit einem neckischen Fußtritt zu wecken, reagierte sie nicht. Ich setzte einen Tritt nach. Immer noch keine Reaktion. Dann kniete ich mich neben sie, um sie wachzurütteln. Als ich innehielt, merkte ich, dass sie nicht mehr atmete.
„Sophie!", schrie ich und schüttelte sie heftiger. Arokin kam angerannt und ließ sich auf der anderen Seite neben Sophie fallen. Dann spürte ich, wie ich weggezerrt wurde. Es fühlte sich alles seltsam dumpf an.
Ich konnte den Blick nicht von Sophie abwenden. Gestern ging es ihr gut und jetzt... Das konnte, das wollte, ich nicht begreifen. Vergeblich versuchte ich, mich von den Armen zu befreien, die mich festhielten. Alles schien unglaublich schnell und gleichzeitig quälend langsam zu passieren.
Arokin kniete immer noch bei Sophie und hielt seinen Blick auf ihren Bauch gereichtet, während er sich über ihr Gesicht beugte und an ihrem Handgelenk ihren Puls suchte. Die Hoffnung, dass ich mich geirrt hatte, würde zerschmettert, als er mit trübem Blick zu uns sah und den Kopf schüttelte.
Es kamen keine Tränen. Stattdessen hörte ich nur mein lautes Gejammer, welches ich selbst mitleiderregend fand. Aber etwas anderes gab es in diesem Augenblick nicht. Das Einzige, das existierte, war dieses Jammern und die Verzweiflung, aus der es entstanden war. Niemals hätte ich gedacht, dass ich solche Laute zustande bringen könnte.
Ich wollte Asir wegschubsen, der mich immer noch festhielt. Es war vergeblich. Vielleicht bewegte ich mich in Wahrheit nicht einmal. Alles fühlte sich so seltsam an.
„Lass mich los!" Ich erkannte meine Stimme nicht. Sie war so hoch. So schrill. So leise. Erneut versuchte ich, um mich zu schlagen, dann gab ich auf sank gegen den Körper, der mich hielt, während ich zitterte.
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Lihambra - Geheimnis der Raben
FantasySarah hat es in ihrem Leben nicht leicht. Nach dem Tod ihrer Schwester wird sie immer wieder von der Trauer eingeholt. Aber all das rückt in den Hintergrund, als wenige Tage vor ihrem Schulabschluss ein neuer Schüler in die Klasse kommt. Zeitgleich...