-31- Von Glühwürmchen und Wegweisern II

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„Warte!" Der Einzige, der mich nun noch aufhalten konnte, stellte sich mir in den Weg. Ich wollte ihm nicht zuhören. Ich musste ihm nicht zuhören, höchstens andersherum. Auch er war nichts als eine lästige Fliege. Jeder einzelne Rabe hier war ein Störenfried. Eine Plage. Jeder einzelne von ihnen musste beseitigt werden, sobald ich wieder zur Gänze ich war. Jeder!

Und doch blieb ich stehen. Ich wollte nicht so werden. Ich wandte mich von meinem ursprünglichen Pfad ab und sah zu Asir, der auf mich zugelaufen kam.

Während ich wartete, hörte und spürte ich die Macht durch den Baum rauschen. Sie war unruhig. Kein Wunder, hatte sie doch kurz ihren wahren Platz gefunden, bevor sie wieder hinausbefördert worden war und seitdem fehlgeleitet wurde. Genauso spürte ich das Zerren der Welten. Den Zerfall von Lihambra, der Welt, die so lange durchgehalten hatte. Es war keine Überraschung, wenn die Welten um sie herum von allen möglichen Seiten an ihr zogen, würde sie zerrissen werden, wie ich erschrocken feststellte. Die Risse erinnerten mich an die, die ich zuvor auf der Erde gesehen hatte. Mit dem Unterschied, dass sie sich hier viel schneller auftaten.

„Was auch immer du vorhast, beeil dich damit." Meine Augen verengten sich, als er dicht vor mir stehenblieb. Ich musste zu ihm aufsehen und stellte fest, dass es mich störte. Doch bevor ich wirklich wütend auf ihn werden konnte, fragte er: „Was war mit das Erste, das ich zu dir gesagt habe?"

Ich erinnerte mich an damals, als er bei mir aufgetaucht war. Er hatte mir erzählt, dass er seinen Bruder suche. Mich gefragt, ob ich wisse, wo er sei. Er sagte, dass er von Olivia gehört habe. Dass es nicht die Wahrheit sei, dass sie sich nicht selbst umgebracht habe.

Doch all das meinte er nicht. Ich wusste, worauf er hinauswollte, bevor er es aussprach, erkannte den Sinn dahinter jedoch nicht. Er blieb hinter einem Nebel verborgen.

Manches wird zu Staub, anderes zu Gold, dachte ich an ihn gewandt.

Er nickte mir langsam zu, während ich in seinen Gedanken blieb. Und es erkannte.

Während er dachte: Lass nicht zu, dass du durch die Macht zu Staub zerfällst. Lass nicht alles um dich herum zerfallen. Nutze sie, um Dinge zum Strahlen zu bringen. Da war er wieder, dieser Blick aus seinen grünen Augen, der nichts in mir unberührt ließ, sondern jeden Teil von mir erfüllte.

Seine Worte waren die Wahrheit, nichts als die absolute Wahrheit. Es lag an mir, Dinge erblühen zu sehen oder sie rücksichtslos zu zerstören. Dinge erblühen zu lassen.

„Ich hätte zugesehen, wie die Raben sich zerfleischen. Tatenlos!" Es auszusprechen, mir das nun einzugestehen, erfüllte mich selbst mit Abscheu. Es holte das Geschehene noch mehr in die Wirklichkeit. „Die Gier nach Macht übernimmt die Kontrolle über mich. Die Lust nach Rache, von der mir die Möglichkeit genommen worden ist, sie an Miron rauszulassen. Sie war so lange in mir, dass sie raus muss, obwohl ich es nicht will. Aber ich kann nichts dagegen tun, dass die Welten sich voneinander entfernen." Ich saß das erste Mal in meinem Leben hinter dem Steuer eines Autos, obwohl ich keinen Führerschein besaß. Und dann war es gleich ein Ferrari. Es war mir unmöglich, die Kontrolle zu behalten, wenn ich nicht jemanden hatte, der mir half. Macht blendete wirklich alle.

Gebannt wartete ich auf eine Erwiderung von ihm.

„Niemand sagt, dass du sie nicht rauslassen darfst. Aber lasse dich nicht von ihr leiten. Schlage nicht blind um dich. Ich weiß, es sieht gerade so aus, als wären viele gegen dich. Doch es sind nur wenige, die zweifeln. Und das auch nur aus Angst. Kümmere du dich um deine Seele und um deine Macht, wir machen den Rest."

„Ich sollte meine Macht weise nutzen, wenn ich sie denn habe. Und bis dahin nichts überstürzen", murmelte ich vor mich hin. „Die anderen Raben sind auch nur geblendet, genauso wie Arokin."

„Hol dir deine Seele wieder, dann deine Macht und lass Arokin danach in Ruhe." Das letzte Wort war nur ein Hauch, ein leises Flehen. „Bitte!"

„Ich lasse mich nicht mehr blenden. Arokin hat nicht so einen großen Teil meiner Seele, aber sie zu bekommen wird einfacher werden, als Olivia zurückzuholen. Und anscheinend möchte er mit mir reden. Vielleicht erreiche ich etwas." Warum sprach ich ihren Namen aus? Olivia war nichts weiter als ein Geist. Nie war sie etwas anderes gewesen. Und doch real. „Kommst du mit? Zu zweit können wir ihn vielleicht besser überzeugen. Ansonsten komme ich mit ihm zurück. Und dann klären wir das."

„Wenn ich könnte, würde ich. Aber nein. Die Welten brauchen jeden, der sie miteinander verbinden kann." Aber ich kann dennoch mit dir kommen. Das ist das Mindeste und alles, was ich tun kann.

Ich nickte ihm zu, bedauerte seine Entscheidung, obwohl ich wusste, dass sie vernünftig war. Ich spürte, wie die Welten sich immer weiter voneinander entfernten, wie sie an dieser Welt zerrten.

Auch er war damit nicht glücklich. Ich wollte nicht, dass Welten zwischen uns lagen. Das taten sie auch so bereits.

Noch standen wir nah beieinander.

„Geh du auf deinem Weg auch nicht verloren", sagte ich zu ihm, als ich ihn umarmte. Ich sog alles in mich auf. Seinen vertrauten Geruch. Dieses Gefühl, am richtigen Platz zu sein. Das Gefühl seiner Lippen, seiner Arme, die mich festhielten. Gemeinsam strahlten wir so hell wie ein Quasar, das hellste Objekt, das es in den Universen gab. Das manchmal zusätzlich zu schwarzen Löchern das Zentrum einer Galaxie bildete. Wir würden nicht verloren gehen, solange wir uns hatten. Es war das Zentrum von allem, das uns, mir, den Weg leuchtete.

Ich wollte ihn nicht gehen lassen. Doch ich tat es. Zumindest körperlich, denn er blieb in meinem Geist. Weil ich musste.

Ich trat zurück, sah ihn lange an und ließ dann langsam seine Hand los. Ich ließ Asir hinter mir stehen, dabei schrie mir etwas aus meinem Inneren zu, es nicht zu tun.

Während ich einige Schritte lief, spürte ich seinen Blick als Kribbeln auf mir. Dabei ich suchte mit meinem Gedanken nach seinem Bruder. Es fiel mir schwer, mich darauf zu fokussieren, denn dafür müsste ich die schreiende Stimme übertönen, die mir bewusst machte, dass ich meinen Wegweiser hinter mir ließ. Doch ich musste nicht erst nach Arokin suchen. Er hatte sich seit meiner letzten Suche nach ihm nicht vom Fleck gerührt.

Ich dachte an meinen Dolch und an das Schwert. Sofort waren sie bei mir und ich steckte sie an meinem Gürtel fest. Sie würden gegen Arokin aller Wahrscheinlichkeit nach nicht viel ausrichten können, doch sie gaben mir ein Gefühl der Sicherheit.

Nichts überstürzen, dachte ich.

Denn es war nicht mehr nur blinde Wut, die mein Wegweiser war. Auch Verständnis. Ich durfte nicht zulassen, dass Asir seinen Bruder verlor. Ich kannte diesen Schmerz nur allzu gut.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt