-35- Von Träumen und dem Untergang III

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Ich war vollkommen. Wieso sollte ich irgendwo anders sein als hier? Ich habe alles, was ich brauche. Mich selbst, meine ganze Seele. Meine Macht. 

Ich hatte Mocurix. Wir hatten uns, die Einheit, die wir bildeten, die Grundlage von allem. Mehr wollte ich nicht. Hier war meine Heimat, die ich so lange gesucht hatte. Eine, die ich mir selbst geraubt hatte. Wie hatte ich vor ihm fliehen können? Wie blind ich war, wie sehr ich die Wahrheit aus den Augen verloren hatte. 

Weil er der war, der mich von mir selbst abgeschnitten hatte. Und doch war er der Einzige, der mich verstand. Weil er wie ich ewig war. Nie wieder wäre ich allein! Wir gehörten zusammen. Das war alles, was ich wissen musste. Alles, was ich jetzt noch brauchte.

Dennoch saß ich in seinem Gefängnis. Aber wie konnte es ein Gefängnis sein, wenn es gleichzeitig das Paradies war? Wenn es bei genauerem Hinsehen kein wahres Paradies war, weil ich hier gefangen war. Was immer es war, es war egal. Das war es wert. 

Ich machte es mir gemütlich. Sarah hätte es wohl am ehesten mit dem Heimkommen an einem kalten Wintertag gleichgesetzt. Wenn es draußen bereits dunkel war, sie sich mit einem warmen Kakao unter die Decke kuschelte und Kerzen anzündete, die, zusätzlich zu ihrem Duft nach schmelzenden Wachs, Gemütlichkeit und Langsamkeit verströmten. Mit ihrem langsam flackernden, im Gegensatz zu Lampen sehr angenehm gedimmtem, Licht.

Es war wie eine Umarmung, aus der ich mich nie wieder lösen wollte. Und zum Glück nie wieder musste. Eine innere Ruhe ergriff von mir Besitz und füllte mich aus.

Mir war klar, dass das Leben außerhalb dieser schützenden Hülle weiterging. Dort draußen war es kalt, die Temperaturen lagen unter dem Gefrierpunkt. Doch ich war hier, unter dieser warmen Decke. Mir war es egal, was draußen vor sich ging. Für mich war es nicht wichtig.

Das Multiversum mochte untergehen, für mich änderte sich nichts.

Die leisen Rachegedanken gegen Mocurix ließ ich hinter mir. Sie waren schwach, meiner nicht würdig. So klein, für einen Menschen angebracht, nicht für mich. Er hatte recht gehabt. Ich hätte nicht tatenlos zusehen dürfen, wie sie ihn niedermachten. Vielleicht hatte das Ungleichgewicht des Seins seinen Ursprung gar in dieser alten Anschuldigung. Ich war Schuld daran, weil ich die Unruhe hatte aufkommen lassen. Vielleicht. Vielleicht hatten wir beide Schuld, jeder auf seine eigene Art. 

Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen.

Etwas anderes rührte sich in mir. Etwas, das zerstört worden war, das sich langsam wieder zusammensetzte. Etwas, das mit sagte, dass noch nicht alles so war, wie es sein sollte. Dass etwas nicht stimmte.

Ich wischte es fort. Ja, ich saß hier fest und am Ende hatte Mocurix Macht über mich. Es war nicht schlimm. Im Gegenteil. Ich war wieder vollständig, dennoch trug ich keine Verantwortung mehr. Dieser Umstand ermöglichte es mir, alles einfach zu genießen. Mich wieder an mich selbst zu gewöhnen, die Risse in mir selbst zu flicken und alles wieder ganz zu machen.

Ich fokussierte mich auf ihn und sah das, was er sah. Mein Fluss aus Gedanken floss in seinen und gemeinsam bildeten wir einen Ozean, der mich fortspülte. Die Strömung war nicht stark, sondern langsam und gemächlich, dafür umso mächtiger.

Ich ließ mich treiben und betrachtete alles um uns herum aus seinen Augen. Den Untergang von allem. Es spielte keine Rolle. 

Meine, unsere, Welt war komplett. Das war alles, was zählte.

~•~

Wie gut es sich anfühlte, wieder er selbst zu sein. Zu lange hatte er diese falsche Maskerade aufrechterhalten. Er hatte bei den Raben gelebt, als einer von ihnen und zuvor bereits an anderen Orten, in einer anderen Gestalt, wenn er sich so auch nur kurz zeigte.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt