IV

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Bei der Arbeit fragt mich Nagi, ob alles okay ist. Ich lüge und nicke. Lache, dass ein paar der Jugendlichen aus dem Ort einen Streich gespielt haben.

Nagi schmunzelt, doch der besorgte Unterton in ihren schlammgrünen Augen schwindet auch den Rest der Woche nicht. Sie macht sich Sorgen, das spüre ich, auch wenn wir selten Worte wechseln.

Ich fürchte mich vor dem Ende der Woche, möchte nicht zuhause sein, wenn es Sonntag wird, und verbringe den gesamten Samstag in Sankt Walborrow, um einzukaufen, Erledigungen zu machen und in Buchläden zu stöbern.

Es fängt an zu schneien, während ich zwischen den hinteren, ruhigen Reihen meines Lieblingsladens stehe und mich durch die ausrangierte Bücherkiste wühle, auf der Suche nach einem alten Groschenroman.

Ich lese nicht unbedingt gerne, aber von Büchern umgeben zu sein, beruhigt mich. Zu wissen, dass ich mich in tausend Geschichten auf einmal befinde, unzählige Leben um mich herum schlummernd darauf warten, lebendig zu werden, ist bereits seit meiner Kindheit eine Eigenheit, die mir schräge Blicke von meinen Mitschülern, unterdrücktes Geseufze meines Vaters und wohlwollendes Schmunzeln der Ladenbesitzerinnen eingebracht hat.

Es hat mich nie gestört. Selten schlage ich eines der Bücher auf und erlaube ihm, mich davon zu tragen. Vielleicht lese ich deswegen so sporadisch. Ich gehe leicht in den Geschichten verloren und finde nicht zurück. Das kann bei Zeiten unheimlich sein. Manchmal sehe ich die Geschichten hinter Ecken lauern, an der Busstation auf mich warten, oder höre sie in meinem Schlafzimmer kichern, wenn es dunkel wird.

Vielleicht habe ich diesen Monat ein Buch gelesen, welches das Klopfen hervorgerufen hat. Ich habe tatsächlich einen Roman begonnen, doch zur Seite gelegt, da die Hauptperson die gleiche Augenfarbe hatte wie ich. Es ist noch gefährlicher, wenn ich mich selbst in den Geschichten finde. Dann kann es passieren, dass ich noch länger brauche, um zurückzufinden.

Ich blinzle, streiche über die vergilbten Seiten in meinen Fingern und überlege. Der Brief warnt mich nur davor, nicht zu öffnen. Davon, nicht draußen zu stehen, hat er nicht erwähnt. Wenn ich also einfach auf der Veranda warte, bis es klopft?

Alleine der Gedanke jagt mir einen Schauer über den Rücken und ich schiebe das Buch zurück in die Kiste.

»Für einen Moment hatte ich Hoffnung, Sie hätten sich endlich entschieden!«

Die Stimme des Buchhändlers reißt mich aus den strudelnden Gedanken, die mir bereits wieder die Luft abzuschneiden versuchen und ich blicke auf. »Zum Glück nicht«, scherze ich und lächle schief.

Herr Jakobsen lächelt zurück. Er ist bestimmt hundert Jahre alt, sieht auch so aus, aber sein Geist ist so jung, wie ich es bin. Ich habe ihn schon oft um das Geheimnis seiner Jugendlichkeit ausgequetscht, aber er hat immer nur abgewunken und gelacht. Er gebe sich jeden Morgen einen Schuss Zufriedenheit in den Tee. Das wirkt Wunder.

»Bei Ihrem spitzfindigen Geschmack hätte mich das auch überrascht. Ich schließe aber bald den Laden, also ...«

Ich blicke aus dem Fenster und dann auf meine Armbanduhr. »Himmel«, murmle ich und reibe mir die plötzlich müden Augen. »Entschuldigen Sie, ich muss die Zeit aus den Augen verloren haben.«

»Ach nein, nicht Sie die Zeit. Die Zeit Sie«, antwortet er fröhlich und begleitet mich zur Ladentüre.

»Wie ist denn das zu verstehen«, stelle ich in den Raum.

»Manchmal sehen Sie so in Gedanken versunken aus, dass man meinte, Sie wären ganz und gar zeitlos.«

Ich runzele verblüfft die Brauen und verabschiede mich von Herrn Jakobsen. Er winkt mir und ich winke zurück.


[Novelle] Karis Brief 🗸Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt