Vor meiner Türe steht niemand. Ich blicke hinaus in die kobaltblaue Dämmerung, spähe nach links, nach rechts und dann hinauf in den Himmel, der wolkenlos oder vielleicht komplett mit Wolken bedeckt einen eintönigen, dunkel strahlenden Farbton angenommen hat.
Die Krähe auf meinem Postkasten stößt ein heiseres Krächzen aus und fliegt auf. Dabei schillert ihr Gefieder Indigo zwischen den Grasklumpen der Brachwiese und dem anschließenden Schilf dahinter. Der Zaun um mein Grundstück ist verschwunden. Es ist unheimlich still, kein Windhauch zieht durch die Äste der Bäume und nicht einmal der Schnee knistert zwischen den Hecken.
Ich trete aus dem Haus und folge der Krähe. Nichts anderes bleibt mir übrig. Die stumme Landschaft breitet sich vor mir aus und ich stocke nur kurz, ehe ich in die Brachwiese steige, wo selbst die im Winter zusammengesunkenen Halme so groß sind wie ich. Jeden Augenblick rechne ich mit einem Angriff, mit einem grauenerregenden Rascheln, Kichern oder Kreischen. Meine Axt liegt schwer in meinen Händen und obwohl ich das Holzhacken gewohnt bin, sind meine Muskeln müde. Ich weiß nicht, wohin ich gehe, wo ich bin, oder was ich hiermit versuche zu erreichen, aber ein innerer Sog zieht mich weiter und weiter und weiter.
Immer wieder blitzt das Indigo der Krähenflügel in der Ferne auf und ich erreiche den See. Zugefroren und unberührt liegt er in der reglosen Welt hinter dem Klopfen an meiner Türe und lädt mich dazu ein, ihn zu betreten. Erneut zögere ich, prüfe die Umgebung, ausgelaugt, erschöpft.
Schlimmer als die Angst zerrt eine unbeschreibliche Verzweiflung an mir, verlangt nach einer Auflösung und ähnlich wie nach dem Erscheinen meiner Besucherin, nach Erlösung aus der Anspannung. Mein Atem ist flach und angestrengt, in meinen Lungen krampft es und meine Kehle zieht sich mit jedem bleiernen Schritt zusammen. Ich schiebe mich durch das letzte Schilf und betrete den See, die Axt in Anschlag, um mich zur Not verteidigen zu können.
Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich mit meinem Vater einen so vollkommen zugefrorenen See erblickt habe. Wie ich gestaunt habe, voll Ehrfurcht und Ungläubigkeit, dass die Welt zu solchen Wundern fähig ist. Der ganze See hat geseufzt mit seinen überirdischen Stimmen, tief im Eis, versteckt zwischen Luftblasen und Rissen.
Immer noch erwarte ich einen Hinterhalt, ein vielgesichtiges Monster mit Menschenaugen und tausend stiftartigen Zähnen, die seinen Kopf von Ohr bis Ohr spalten. Noch immer denke ich an verzerrte zum Schrei geöffnete Gesichter, mit leeren Höhlen als Augen und hunderten Fingern, die aufgehört haben, Musik zu spielen und mich mit ihrem Nichtstun verhöhnen.
Ich senke den Blick auf meine Füße, merke, dass das Eis vollkommen durchsichtig ist, und atme heftig durch den Mund. Meine Lungen geben langsam auf und die Panik sitzt mir jetzt so heftig im Nacken, dass mein ganzer Körper vor Anstrengung zittert. In der endlosen, unendlich tiefblauen Weite gleiten riesenhafte Schemen durchs Wasser, träge und rhythmisch, so wie langsame Herzschläge Blut durch die Adern pumpen.
Ein klirrendkalter Schweißtropfen rinnt über meinen Nasenrücken und landet auf dem Eis und obwohl er ebenso geräuschlos ist, wie alles in dieser Welt, gerät die Flut unter mir in Aufruhr. Schatten und schillernde Funken blitzen durcheinander, tauchen ab und wieder auf, zu schnell für meine Wahrnehmung, lassen ihr keine Zeit, sie zu einem großen Ganzen zusammenzusetzen.
Ich erinnere mich an den Tag auf dem Schiff, als ich mit meinem Vater das erste Mal in See gestochen bin. Winzig und vergraben in einem Anorak, der nichts bis auf meine Augen und die Nase sichtbar gelassen hat. Ich bin auf dem Dach gesessen, habe mich an die Reling geklammert und hypnotisiert auf die gigantischen Schemen unter Wasser gestarrt, die unserem Kahn gefolgt sind. Wale, Robben, Schatten von Wesen, die ich mir erdacht habe.
Ich höre meinen Vater lachen, spüre seine Hand auf meinem Kopf und dann seinen Finger auf meiner kleinen Nase. Spüre diese Berührung so heftig, dass ich mir ins Gesicht fasse und Tränen betaste, die anstatt seiner Finger über meine Wangen streichen.
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[Novelle] Karis Brief 🗸
Художественная проза»Wovor bist du dann davongelaufen?« Die Frage trifft mich mit sanftem Atem mitten ins Gesicht. Ich bin nicht davongelaufen, will ich sagen, kann es aber nicht. Ich denke an das leere Apartment meines Vaters, an die Stille und die Einsamkeit zwischen...