XXVI

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(Anm.: wieder ein Lied, um die Stimmung zu untermalen :) Textübersetzung im Video)

Erst jetzt beginne ich die beißende, brennende Kälte in meinen Knien zu spüren. Sie sickert durch die Hose und durch meine tauben Fingerspitzen, bis tief in mich hinein. Ich weine und weine, schreie in diese uferlose Leere, bis ich keine Luft mehr zu geben habe. Danach schluchze ich stumm. Gebrochen und ausgelaugt. Hämmere mit blutigen Fingern auf den ebenso blutigen Stein, streiche wieder und wieder über die Buchstaben und Worte, die alle auf einmal und nirgendwo gleichzeitig sind.

Und in dieser grässlichen Einsamkeit winkt mir plötzlich ein indigofarbener Schiller zu. Ich hebe meinen dröhnenden Kopf, blinzle durch verquollene Augen und sehe die Krähe auf dem Kopf des Monoliths sitzen. Sie krächzt und ich krächzte zurück. Was sie will, warum sie mir das angetan hat. Sie krächzt erneut und lässt sich auf der Rückseite des Steins fallen.

Ich wische mir mit unkontrolliert zitternden Händen über die Wangen und hieve meinen zerbrochenen Körper vom Boden. Ich spüre meine Zehen nicht, ich fühle keinen Muskel, aber ich schleppe mich vorwärts, sacke gegen den Stein und drücke meine Wange gegen ihn. Er fühlt sich warm aufgrund meines Blutes an, das sich in den Rillen der Buchstaben gesammelt hat. Ziehe und schiebe gleichzeitig bis mein Körper um den Monolith rutscht.

Die Krähe hüpft vor mir ihm Schnee und über mir strahlt der kobaltblaue Himmel nach wie vor unverändert auf diesen Albtraum herab. Nichts als Weite, bis zum Horizont. Kein Baum, kein Strauch, kein Tier. Ich werde hier sterben.

Die Krähe krächzt ein letztes Mal und hüpft dann behände vor mir davon. Ich folge ihrem indigofarbenen Umriss und dann erblicke ich es. Wie aus dem Nichts, doch immer schon hier gewesen, da bin ich mir auf einen Schlag sicher, ruht ein Fenster in einem abgebrochenen Mauerstück direkt vor mir. Keine drei Meter entfernt.

Die Wandfarbe ist von einem warmen Weiß und der Fensterrahmen von solch einem lieblichen Braunton, so hell und froh, dass mein Herz zerbricht. Ich kenne den Kratzer am linken Rahmen, habe den indigofarbenen Strich an der rechten Seite selbst gemalt, obwohl ich damals das Wort Indigo nicht einmal erahnt habe, und bin deshalb quietschend vor meinem Vater davongewackelt, der mir spielerisch drohend hinterhergekrabbelt ist. Ich weiß, wie sich der vergilbte Seidenvorhang zwischen meinen Fingern anfühlt, weil ich ihn tausende Male durch diese gleiten habe lassen, die Textur eines Stoffes, der fein und doch über die Jahre rau geworden ist. Da flutet Sonne durch den Vorhang, ein Flügel steht leicht offen und eine warme Brise strömt hindurch. Das Schattenspiel stummer Blätter, die auf der anderen Seite dieses Durchgangs im Sommer flattern und tanzen, sprenkelt das warme Holz und die kühle Fassade.

Die Krähe starrt mich an, bis ich mich vom Anblick des Fensters losreiße und erst dann erhebt sie sich ohne Abschied in die Luft und gleitet lautlos zwischen den Vorhängen hindurch auf die andere Seite. Lässt mich einsam zurück.

Ich krieche vorwärts, ziehe meine schlaffen Unterschenkel durch den tiefen Schnee. Der Drang ist auf einmal übermächtig, ich will nicht in dieser eisigen Einöde zurückbleiben, nicht einsam darauf warten, bis mich die Stille erschlägt, sondern zurück in diese bunte Wärme, das Licht aus einem vergangenen Leben, das mich viel zu früh schon verlassen hat.

Meine Hände hinterlassen blutige Spuren auf der Wand und dem Fensterrahmen, an dem ich mich hochziehe, und bedecken den indigofarbenen Strich meiner wagemutigen Babyhand. Dann endlich tanzt mir die Sonne über das Gesicht und ich recke es dem Fenster entgegen, atme aus und wieder ein. Der Vorhang wird von der Brise sanft gegen meine Stirn gedrückt, streicht über meine Wange und schmunzelt mit den Augen meines Vaters. Die Geräusche sind auf einen Schlag da, subtil, doch unverkennbar. Das Rauschen der Blätter und das ferne Bellen eines Hundes, ein lachendes Kind und ein lachender Mann.

Ich sauge den Geruch nach Sommer in mich auf und dann den Geruch nach Winter. Das herbe Aroma des Herbstes und die verspielten Duftnoten des Frühlings. Hier draußen zieht ein Leben an mir vorbei, das ich so lange vermisst habe. Und jetzt sehe ich es wieder vor mir.

Den kleinen Innenhof und die Schaukel im Baum, den rostigen Griller und die Plastikstühle. Das lachende Kind bin ich, natürlich bin es ich, wer sollte sonst hinter diesem Fenster warten, das aus dem Nichts ins Nichts hineinführt?

Ich lehne mit den Ellenbogen auf dem Fenstersims und beuge mich zwischen den sich bauschenden Vorhängen hindurch, schiebe sie zur Seite, hinterlasse mehr blutige Abdrücke. Ich weiß genau, was gleich geschieht.

Meine ganze Welt schaukelt heftig auf und ab, wie wenn man auf einem Boot inmitten eines Sturmes steht. Es ist ein wunderbares Gefühl, den Naturgewalten ausgesetzt zu sein, wenn die Schwerkraft am Magen zieht und die Glieder ganz leicht werden lässt. Aber in diesem Fall sind die Naturgewalten mein Vater, der mich auf meine Aufforderung höher und immer höher schubst.

Ich sehe das Fenster hoch über meinem Kopf, erkenne den vergilbten Vorhang, der sich in der Brise bauscht, die ich gerade auf meinem Gesicht spüre und blicke meinem Ich entgegen, das zu mir nach oben späht und vor Vergnügen quietscht. Und dann kommt das Blut.

Es ist ganz leicht, von einem Zustand der Existenz in den nächsten überzugehen, dazu braucht es nicht viel, nur ein winziges Bisschen Zeit. Und diese vergeht mit einem Schwung. Weil ich auf die indigofarbenen Krähen auf dem Dach gedeutet habe, rutscht meine andere Hand weg, mein leichter Körper wird von der Schwerkraft gepackt und auf einmal von der Physik und nicht mehr von meinem Vater angeschubst. Ich falle.

Ich wende den Blick ab, weil ich den Moment nicht ertragen möchte. Stattdessen starre ich auf meine Hände, die ebenso blutig und zerschnitten sind, wie die Hände des Kindes unten im Hof. Mein gellendes Kreischen durchschneidet die vorherige Idylle und der Schmerz flammt in meinen Fingern auf, als wäre ich gerade selbst gestürzt.

Gewissermaßen bin ich das.

Die flackernde Panik, die Angst vor dem Ende sitzt wieder in meiner Brust und mein Herzschlag verdoppelt sich. Aber ich lebe, mir ist nichts Schlimmes passiert. Und trotzdem waren diese wenigen Augenblicke, in denen ich in freiem Fall meinem sichergeglaubten Tod entgegengestürzt bin, das erste Mal, dass ich diese erschreckende, entsetzliche Einsamkeit verspürt habe. Losgelöst von sämtlichen Ufern hat sie meine Brust geflutet und auf einen Schlag sämtliche Luft aus mir gelöscht. Da ist sie das erste Mal gerissen, die Verbindung zwischen Vater und Kind, ich habe mich entsetzlich betrogen gefühlt, dass die Welt das mit mir machen konnte, ohne zu fragen. Ohne bestraft zu werden. Ohne, dass in meinem Namen Vergeltung für diesen Verrat geübt wurde.

Ich habe mich alleine gelassen gefühlt, obwohl mir selbstverständlich in den Jahren danach klar geworden ist, dass dieser Unfall weder Strafe noch Bosheit gewesen ist. Aber die Leere, wo mein Vater hätte sein müssen, hat sich wie Säure in mich hineingebrannt. Den Samen für ein namenloses Trauma gesät, dem schließlich mein Vater zu erliegen kam.

Unten im Hof redet mein Vater auf mich ein, seine ruhige Stimme ummantelt mich und dann hebt er meinen zitternden, blutenden Körper vom Boden und rennt mit mir ins Haus. Ich erinnere mich an die karierten Geschirrtücher in Rot und Grün, die er mir um die Hände gewickelt hat, ehe wir ins Krankenhaus gefahren sind. Es war nichts gebrochen, nur verstaucht. Nach der Behandlung habe ich wieder gelacht und mein Vater hat mir schmunzelnd ein Eis gekauft. Er hat es für mich halten müssen, weil meine Hände ganz fest eingewickelt waren.

Ich lächle wehmütig und blicke auf meine Hände hinab. Blutig und zerschnitten haben sie das Holz des Fenstersimses verfärbt und der erste Tropfen fällt von der Schwerkraft gezogen über den Rand hinunter in den Hof.

Er hat immer auf mich acht gegeben, so wie er es konnte. Und ich weiß, dass er es nicht immer geschafft hat, weil wir zwei verschiedene Menschen geworden sind, die einander irgendwann nicht mehr verstanden haben. Aber diese tiefe Verwurzelung zweier Existenzen war trotzdem immer da. Sie hat sich nicht aufgelöst, bis zum Ende nicht.

Ich habe diese Einsamkeit erdacht, weil mein Vater in den falschen Augenblicken geschwiegen und in den noch schlimmeren, etwas gesagt hat. Und im Gegenzug habe ich in den ebenso falschen Augenblicken etwas gesagt und in den noch schlimmeren geschwiegen.

Jetzt blicke ich wieder in den Hof, der verlassen und in immerwährender Eintracht unter dem Fenster liegt. Die Schaukel ist still und der Hund verstummt. Nur noch die Blätter flüstern und das Gras wispert. Ein Zaunkönig erhebt seine Stimme und begleitet die warme Ruhe mit seinem Gesang. Ich könnte hier für immer stehen.


[Novelle] Karis Brief 🗸Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt