Lina Seria ⌠ Distrikt Sieben ⌡
Tief in ihrem Innern wusste Lina bereits, dass sie in dieser Nacht kein Auge zubekommen würde. Genauso wenig wie in all den Nächten davor. Das Bett, das Zimmer, einfach alles daran war fremd, wie ein unerbittlich scheuerndes Pflaster auf einer eiternden Wunde. Die Matratze ächzte nicht unter jeder ihrer Bewegungen, und die Decke roch nicht nach Schweiß und Mottenkugeln und alter Wolle. Sie fühlte sich kalt und steif auf ihrer Haut an, wie eine Glasscheibe, selbst nachdem sie sich stundenlang darunter gewälzt hatte.
Und die Stille ... diese Stille war das Allerschlimmste.
Im Zimmer war kein einziger Laut zu vernehmen. Kein Blätterrascheln und keine Eulenschreie draußen vor dem Fenster, keine jaulenden Hunde oder knarzenden Äste, die sich im Wind wogen und fordernd gegen die Scheibe klopften. Lina fühlte sich völlig vom Rest der Welt abgeschnitten. Als hätte irgendeine grauenvolle Katastrophe sämtliches Leben um sie herum erstickt.
Das Einzige, was sie noch immer an zuhause erinnerte, war ...
Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, wenn Lina heute nicht mehr einschlief. Im Endeffekt würde das auch nur bedeuten, dass das Unausweichliche früher geschah als erwartet. Sobald sie aufwachte, würde der nächste Tag beginnen. Und sobald der nächste Tag begann, begannen auch die Spiele.
Lina widerstrebte es zutiefst, sich diese Tatsache einzugestehen, doch sie hatte Angst. Unvorstellbare Angst. Auch wenn sie sich inzwischen mit der Vorstellung arrangiert hatte, hier sterben zu können, wenn nicht sogar andere Menschen zu töten, bedeutete das noch lange nicht, dass sie sich daran gewöhnt hatte. Sobald sie auch nur darüber nachdachte, begann ihr Puls sich wieder zu beschleunigen und ihre Hände zu zittern, und je mehr sie diese Angst zu unterdrücken versuchte, desto schwerer fiel es ihr. Das war doch alles völliger Schwachsinn! Niemand sollte sich an derartige Umstände gewöhnen müssen. So etwas war ... einfach nicht richtig.
Doch selbst wenn Lina tatsächlich die ganze Nacht über wachlag, würde das die Zeit nicht anhalten. Der Morgen würde kommen, die Sonne würde aufgehen, und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Sie würde todmüde sein von all der Panik, dem Stress und den Gedankenspiralen, in denen sie sich verfangen hatte, so müde, dass sie den Countdown einfach verschlafen und das Wesentliche, nämlich ihr eigenes Überleben, aus den Augen verlieren würde. Das konnte sie sich einfach nicht leisten! Aber hatte sie überhaupt eine Wahl? Sollte sie es nicht wenigstens versuchen? Eigentlich brachte es doch sowieso nichts.
Ein unangenehmer, ja beinahe stechender Druck hinter ihren Augeäpfeln ließ Lina die Zähne zusammenbeißen, doch ihre Wangen blieben trocken. Es waren keine Tränen mehr übrig, die sie vergießen konnte. Nur ein scharfes, trockenes Brennen unter ihren Lidern, das ihren Schädel weiter dumpf vor sich hin pochen ließ.
Das leise Öffnen der Tür war das einzige Geräusch, das Lina abgesehen vom Rascheln ihrer Bettwäsche und ihrem eigenen Atem vernehmen konnte, und es jagte ihr einen seltsam wohligen Schauer über den Rücken. Keine quietschenden Scharniere. Keine uralten Holzdielen, die unter jedem Schritt ächzten, ganz egal, wie leise er auch zu schleichen versuchte.
Sie konnte spüren, wie die Matratze hinter ihr absackte, noch immer lautlos, dann eine große, warme Hand auf ihrer Schulter, die langsam an ihrem zum Zerreißen angespannten Oberarm entlangfuhr, und ein flüchtiger Kuss in ihrem Haar.
Lina schloss die Augen. Am liebsten hätte sie jetzt geweint. Doch sie konnte nicht.
Tomath schlang seine Arme um ihre Taille und zog sie näher zu sich heran, presste seinen Körper fest gegen ihren, und vergrub das Gesicht in ihrem Nacken. Sie spürte den heißen Atem hinter ihrem Ohr und bekam prompt eine Gänsehaut.
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me & the devil ✶ Die 59. Hungerspiele ⌠mmff⌡
MaceraWir schreiben das Jahr der 59. Hungerspiele. Der Tag der Ernte hängt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Familien, die in den zwölf Distrikten Panems tagtäglich um ihre Existenz fürchten. Denn wie jedes Jahr müssen auch diesmal vierundzwanzi...