Kapitel 19

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Smilla:
‚Wenn mir die Worte fehlen' ist nun endlich fertig. Der gesamte Text, das gesamte Kunstwerk, welches Wincent und ich gemeinsam, über Monate hinweg erschaffen haben, ist nun aufgeschrieben auf einem Blatt Papier, bereit um aufgenommen zu werden und hinaus in die Welt geschickt zu werden. Der Kamin knistert und die Flammen des Feuers lodern nur vor sich hin. Gelb, Rot, Orange. Alle Farben erkennt man nicht nur in der Farbe des Feuers, sondern auch in der gesamten Hütte, in der ich, zusammen mit Wincent lebe. Alles ist vorbereitet, für seine Familie. Ich werde sie heute kennenlernen. Und sie mich. Mein Magen rumort und ich spanne mich an, als Wincent in einem Hemd aus dem Bad kommt. „Du brauchst nicht aufgeregt sein, es wird alles gut gehen. Ich kenne keinen, die eine Frau in meinem Leben, besser aufnehmen würde, als meine Familie, Smilla.". Er setzt sich auf den gegenüber stehenden Sessel und nimmt beide meiner Hände in seine. Wärme. „Möchtest du sie mit vom Flughafen abholen ?." flüstert er kaum hörbar. Aros schlummert noch immer tief und fest in seinem Korb. Ihm scheint das lodernde Feuer wie eine Meditation. Das tut es schon immer, seitdem er seinen Platz, direkt neben dem Kamin, seit unserer Ankunft in dieser Hütte, als sein Revier bestimmte. „Gerne." lächle ich.
Ich lege meinen warmen Mantel um, als es Zeit wird. Meine Aufregung steigt ins unermessliche, als wir uns dem Tromsø Lufthavn nähern. Wenige Menschen laufen umher. Die meisten eingepackt in die wärmsten Winterjacken. Der Wind pfeift und wirbelt den liegen gebliebenen Schnee auf. Die Sicht ist schlecht, dennoch erkenne ich drei Gestalten, zwischen den Schneewolken, die sich den Weg zu uns durchkämpfen. Wincent lässt meine Hand los und geht auf sie zu. Eine innige Umarmung nehme ich wahr, als die Erinnerungen wieder die Macht über mich gewinnen. Eine Träne rollt über meine Wangen. Einerseits, weil er endlich, nach vielen Monaten, seine Familie wieder in die Arme schließen kann, andererseits, weil es mich an die Bärenumarmungen, wie wir sie einst nannten, von Leif und mir erinnern. Ich streiche sie weg und gehe langsam auf die vier zu. „Du bist wohl Smilla." sagt ein großgewachsener Mann, der Wincent ähnlich scheint. Er hällt mir die Hand hin und ich nehme sie. Eiskalt. Nicht so warm, wie die von Wincent. „Hm." antworte ich. So wortkarg, war ich lange nicht mehr. Das letzte mal bei..
„Ich glaube wir sollten schnellstmöglich nach Hause, sonst wird der Schnee noch dichter, und wir kommen nicht mehr von hier weg.". Gott sei dank. Der Retter in der Not.
Er nimmt wieder meine Hand in seine, und eine gewohnte Wärme durchstreift meinen Körper, in einer Millisekunde.
Ich schließe also die Tür auf und wir betreten mein Zuhause. Mein Zuhause, in das ich noch nie eine Person, außer Wincent, hineingelassen habe. Noch nie hat eine andere Person, als Wincent, mein Hab und Gut, mein Zufluchtsort, der Ort an dem ich mich sicher fühle, betreten.
Seine Familie wird sofort von Aros in Beschlag genommen, dem es sichtlich genauso fremd vorkommt wie mir.
„Ich wusste nicht das mein bester Freund aus der Heimat mitkommt, ich hoffe wir haben trotzdem ein tolles Weihnachtsfest übermorgen." flüstert mir Wincent, etwas abseits gelegen, der Fläche, wo Aros ein ausgiebiges Verwöhnprogramm genießt. Wincent streicht dabei über meine Arme, die von einem dicken Pullover, den ich selbst gestrickt habe, umgeben werden. Die raue Wolle kratzt an meinen Armen, dennoch wird mir nur durch seine Anwesenheit, eine Gänsehaut beschert.
Ich sehe aus dem Fenster, denke darüber nach wie wohl Kjell, das diesjährige Weihnachtsfest, feiern wird. Sicherlich wieder mit Knut zusammen. Aber ohne mich. Das vergangene Jahr hatte ich eine CD bekommen. Ein Hörspiel von Kjell, indem er einzelne Wortfetzen von Leif, einfügte. „Als lebende Erinnerung", hatte er gesagt. „Leif bleibt lebend in deinem Herzen Smilla." sagte er. „Die letzten Jahre habe ich immer mit Kjell zusammen gefeiert." wispere ich leise gegen das Fenster. Doch Wincent hört es. „Wir fahren nach den Feiertagen in die Stadt okay? Da besuchen wir Kjell. Ich weiß doch wie viel er dir bedeutet." flüstert er und gibt mir einen kleinen Kuss auf meinen Scheitel.
Der erste. Der erste eines anderen Mannes. Wincent nimmt meine kalte Hand und wir nähern uns gemeinsam seiner Familie, die meine geschmückten Wände freudig begutachten. „Ich freue mich euch kennenzulernen. Ich bin nur etwas skeptisch, wenn Leute die ich nicht kenne, mein Zuhause betreten." sage ich leise. Sechs Augen sehen in meine. Sie sehen mich an. Sie sehen förmlich in mein herein und ich habe das Gefühl, sie können meine Gedanken erkennen. Wir setzten uns gemeinsam auf die Decken, die ich vor dem Kamin ausgebreitet hatte, und lernen uns kennen. Ich höre Geschichten über Wincent und seinen besten Freund, ich höre Geschichten, über seine Träume und Gedanken.
Und ich höre so ganz nebenbei auch ein Herz, dessen schlagen, sich wie eine Melodie anhört. Wincent's ganz eigene Melodie. Sie scheint eine glückliche zu sein. Eine stolze.

Wenn die Wellen toben / wincent weiss ff Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt