Der Fluch

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Ein dichter, undurchdringlicher Nebelteppich zog sich durch die Straßen und Gassen des kleinen Dorfes kaum, dass die Nacht hereingebrochen war. Eine schneidende Kälte hatte die Wärme vertrieben, sodass sich bei jedem noch so kleinen Atemzug feine Dunstwolken vor den Lippen des jungen Mannes bildeten... eine Eigenschaft dieser Welt, die Abyssu immer und immer wieder faszinierte. Wie schwankend die Temperaturen doch waren – wie schnell es warm und wie es ebenso schnell bitterkalt werden konnte.

Nicht, dass es ihn stören würde. In seinem Körper herrschte stets dieselbe kochend heiße Hitze wie sie in jeder Kreatur, welche in den Flammen der Hölle geboren worden war – nun, zumindest stellten die Menschen sich eben so die Hölle vor – ein Meer aus unlöschbaren Flammen. Doch ebenso stellten sich die Menschen den Himmel als ein herrliches Paradies vor – einem Ort, an dem sie glücklich und ohne Schmerz – frei von Sorgen leben konnten. Doch die bittere Wahrheit war, dass sich Gott und die Engel einen Scheiß für die Menschen interessierten. Sie waren wohl die größten Arschlöcher – schlimmer noch als die schlimmsten Wesen, die die Hölle ausspucken konnte. Sie logen, betrogen – versprachen den Menschen Schutz und dass sie nach ihrem Tod an einen besseren Ort kommen würden – aber das natürlich nur, wenn sie sich an Gottes Gesetzte hielten. Pff... was für ein Bullshit... Zwar mochte Abyssu diesen Ort nie gesehen – ihn niemals selbst betreten haben, aber war er in den vielen Jahrhunderten schon dem Ein oder anderen von diesen scheinheiligen Bastarden begegnet, um zu wissen, wie sie wirklich waren. Arrogant. Selbstverliebt und gewiss nicht so herzensgut wie die Menschen sie sich gern ausmalten... Nein, sie kümmerten sich einzig und allein um ihre eigenen Angelegenheiten. Und wenn es zu gefährlich wurde, retteten sie lieber ihre eigene, makellose Püppchenhaut... was ihnen jedoch – je nach Gegner – nur schwerlich gelang...

Mit einem freudigen Grinsen, dem eines Kindes gleichend welches ein neues Spielzeug erhalten hatte, blitzen bildhafte Erinnerungen vor dem Inneren Auge des Dämons auf – Erinnerungen, die zwar lange zurück liegen mochten und dennoch hatte der Dämon just in diesem Augenblick das Gefühl, den metallisch-süßen Geschmack des Blutes des Himmlischen auf den eigenen Lippen zu schmecken – die Bitterkeit, die Schärfe und das Brennen als die warme, klebrige Flüssigkeit seine Kehle herabgeronnen und ihn mit solch einer Erregung erfüllt hatte – solch einem Verlangen, dass er einfach nicht genug hatte bekommen können – war er solch einem Rausch verfallen. Vom Körper des Himmlischen war nichts weiter übriggeblieben als ein Haufen aus blut'gen Federn, Eingeweiden und Fleisch...

Allein bei diesen Gedanken verspürte Abyssu erneut jene lüsterne Erregung, welche er schon in dieser einen Nacht gespürt und nur wenige Augenblicke später erklang jene wundervolle, lockende Melodie hinter seinen Augen. Jene Melodie, jener Gesang, welchen er im Augenblick seines Erwachens vernommen und die selbst dazu in der Lage war, die Stimme seiner Mutter aus seinen Gedanken zu vertreiben... eine Stimme, schöner noch als der Gesang des Himmels, hallte wieder und wieder durch seinen Schädel – rief und lockte und für einen kurzen Moment neigte der Dämon den Kopf ein klein wenig seitlich, den Blick nahezu starr in die Finsternis gerichtet. Nein, heute Nacht würde nicht nur einer sterben... heute Nacht würde Blut fließen... und er würde es genießen... er würde sein Gesicht sehnsüchtig in die warmen, noch pulsierenden Eingeweide seiner Opfer schmiegen, wissentlich, dass die Augen seiner Mutter auf ihm ruhten – und wer weiss? Vielleicht würden es ja auch die ihren sein, in die er sein Gesicht tauchte? Wie lange war es her, seit die ihn das letzte Mal umarmt, seit sie ihm das letzte Mal mütterlich behandelt und ihm gesagt hatte, dass sie ihn liebte? Abyssu konnte sich nicht daran erinnern...

Abermals glaubte er – einem leisen Echo gleichend, welches der Wind von weit her an sein Ohr trug – die Stimme seiner Mutter zu hören. Jedoch wurde es durch den liebevollen Gesang, der noch immer seine Gedanken ganz und gar für sich einnahm, vertrieben, ausgeblendet und so setzte sich Abyssu auch schon in Bewegung – die Schritte langsam, gleichmäßig – fast schon elegant und mit jedem seiner Schritte schien die Dunkelheit vor ihm zu weichen – ihm einen Weg zu öffnen bis das Haus, welches sich wie eine dunkle, schwarze Silhouette aus der tiefen Schwärze der Nacht emporhob, erreicht hatte. In nur einem einzigen Fenster war noch Licht zu sehen – vermutlich jenes Zimmer, in dem das Kindlein schlafen würde – denn Kinder, so hatte Abyssu bereits gelernt, hatten Angst vor der Finsternis... Doch eine kleine, schwache Kerzenflamme würde ihn gewiss nicht davon abhalten, sie zu erreichen... Die feingliedrige Hand wurde ausgestreckt und es schien, als berühren die filigranen Finger die Dunkelheit selbst – zumindest für einen kurzen Augenblick. Ein Blitz zuckte auf, ein stechender Schmerz durchfuhr den Leib des Dämons, sodass dieser einen einzigen Schritt zurück wich... Verwirrung zeichnete sich im Blick des Düsterlings... Die Dunkelheit vor ihm schien sich zu bewegen – wellenartig, als habe er eine unsichtbare Flüssigkeit in Bewegung gesetzt, die sich nach und nach wieder zu beruhigen schien. Eine Mauer schien sich vor ihm aufgebaut zu haben. Unsichtbar und ebenso undurchdringbar – zumindest für ihn. Doch war er nicht so dumm, erneut die Finger danach auszustrecken – um es erneut zu versuchen. Noch immer spürte er das schmerzliche Kribbeln, das sich von seinen Fingern in seinem gesamten Arm ausbreitete.

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 26 ⏰

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