Die Zwillinge von Demmin

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Vorwort des Enkels:

Mein Großvater Herbert Schneider ist vor gut zwei Jahren im stattlichen Alter von 94 Jahren verstorben. Aus dem Nachlass übergab mir meine Mutter eine Art Reisetagebuch mit dem Bemerken, dass es mich vielleicht interessieren könnte. Ansonsten möge ich es wegwerfen; ihr Herz hänge nicht daran. Aber meines...? Nur, weil ich als einziger seiner Nachkommen ebenfalls schreibe? Er war Journalist, kein Autor, später bis zum Ruhestand Redakteur einer Tageszeitung im Ressort 'Politik Inland' – wie er nicht nur einmal mit Stolz in der Stimme 'erwähnte'. Ich widerstand dem Reflex, den gut gefüllten Schnellhefter tatsächlich gleich wegzuwerfen, und legte ihn beiseite, bis ich mal dazu käme, einen Blick hineinzuwerfen. Dort schmorte er dann anderthalb Jahre im Stapel der noch zu lesenden Zeitschriften und ähnlicher Vorgänge. Im Zuge einer Aufräumaktion nahm ich ihn 'vorher' nochmal kurz zur Hand. Zum Glück begann ich nicht brav am Anfang zu lesen, sondern klappte den Hefter in der Mitte auf, warf einen Blick hinein und war entsetzt, was ich dort zu lesen bekam. Ich habe es seither etliche Male gelesen und jedes Mal erneut mit Gänsehaut – gelinde ausgedrückt. Die Recherchen, ob mein Großvater jemals etwas darüber veröffentlicht hat, blieben ohne Erfolg. Womöglich wollte in jener Zeit niemand mehr davon hören, oder ihm war das Thema dann selbst zu monströs geworden, vielleicht ja sogar zu wertvoll, zu 'intim'. Aber ich will es tun, um jene vergessene Zeit noch einmal auferstehen zu lassen, in Erinnerung zu rufen und jene zum ersten Mal damit zu konfrontieren, die das Unheil erneut herbeizusehnen scheinen. Doch wie? Die längste Zeit seither, seit ich den Entschluss gefasst habe, grübelte ich über die 'Erzählerperspektive' nach. Sollte ich über meinen Großvater in der dritten Person schreiben, ihn wie damals agieren und seine im 'Reisetagebuch' niedergeschriebenen Gedanken 'denken' lassen? Oder sollte ich ihn wie eine Kamera begleiten und nur das Erlebte, Gesehene und das gesprochene Wort wiedergeben, nicht aber seine Gedanken – vielleicht das Wichtigste daran? Oder sollte ich die Geschichte elf Jahre zuvor 'spielen' lassen, also in jener Zeit ansiedeln, über die er recherchiert hatte, in der das Unglaubliche geschehen war – ohne ihn und seine Gedanken, seine Erlebnisse darin vorkommen zu lassen? Oder sollte ich das Tagebuch einfach abschreiben, abdrucken lassen? Es sind oft nur Notizen, Stichworte, um daraus später ein Essay für die Zeitung zu verfassen, vielleicht auch ein Buch darüber zu schreiben. Und wie hätte er selber solch ein Buch verfasst? Vermutlich hätte er umfassend die Geschehnisse elf Jahre zuvor geschildert, sich selbst zurückgenommen, seine Begegnungen und seine Erlebnisse für sich behalten – was mehr als schade wäre – und gewiss nicht in der Ichform geschrieben. Aber ich! Und endlich war die Entscheidung gefallen. Das 'Tagebuch' war schließlich ebenso in der Ichform verfasst, wenn er selbst darin auch nicht oft 'vorkam'. Zudem würde ich mich so vermutlich am besten in ihn hineinversetzen, in seine Rolle schlüpfen können. Was sich bewahrheitet hat; die Arbeit hat mich meinem Opa posthum nochmal sehr viel näher gebracht, mich über ihn wundern, ihn bewundern, aber bisweilen auch über ihn schmunzeln lassen – den alten seriösen Herrn, dem ich dieses und jenes nicht zugetraut hätte, nicht zugetraut, dass auch er einmal derart jung gewesen war.


Natürlich blieb es nicht aus, dass ich während des Schreibens selbst noch einmal über geschichtliche Zusammenhänge und Hintergründe recherchiert habe. Doch alles passte wie Versatzstücke zu den Schilderungen meines Großvaters. Auch die Ergebnisse dieser Nachermittlungen werden im Folgenden wiedergegeben, sind dann aber als solche – wie hier – gekennzeichnet.



Ich hoffe, meinem Großvater mit diesem Buch gerecht geworden zu sein und mit der Veröffentlichung seiner Gedanken – doch – in seinem Sinne gehandelt zu haben. Mit meinem ureigenen 'Nachwort' habe ich es gewiss getan, denn er ist zeitlebens ein überzeugter Demokrat und engagierter Antifaschist gewesen.

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