Abrechnung

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Zwei leere Whiskeygläser später, hatte Dr. Arkham, die Information dass Alice höchstwahrscheinlich das nächste Opfer des Jokers sein könnte, nur ansatzweise verdaut.
Er saß in seinem azurblauen Bürostuhl, der farblich ganz wunderbar, mit seiner abgetragenen Krawatte harmonierte und starrte mit verkniffen Blick vor sich hin.
Der Alkohol brannte noch in seiner Kehle und verschaffte seinen verworrenen Gedanken ein wenig Klarheit.
Alice, das nächste Opfer des berüchtigten Jokers.
Er konnte die Schlagzeile schon bildlich vor sich sehen: Seniler alter Witz von einem psychiatrischen Leiter, hatte es nicht einmal ansatzweise geschafft, die Tochter seines einzigen -leider bereits verstorbenen- Freundes, vor den Klauen eines verrückten Clowns zu beschützen.
Die Journalisten würden ihm wahrlich die Bude einrennen.
Sie würden mit ihren geschriebenen Worten, alles zerschmettern, was er über die Jahre aufgebaut hatte.
Endlich gäbe es die nötige Publicity.
In einer Form, wie er es niemals gewollt hatte.
Alices Tod, im Austausch für den allseits begehrten Medienrummel.

Mit zittrigen Fingern, schenkte sich der ergraute Mann ein weiteres Glas ein, das er auch dieses Mal, in einem Zug leerte.
Was sollte er jetzt tun?
Vielmehr, was konnte er überhaupt tun, um Alice zu beschützen?
,,Dr. Arkham'', erklang da die zarte Stimme jener jungen Frau, der er eigenhändig, den Weg für ihr eigenes Verderben geebnet hatte. ,,Machen Sie sich bitte keine Vorwürfe, es ist nicht Ihre Schuld, dass ich mich jetzt in dieser Situation befinde. Ich habe mich aus freien Stücken dazu entschlossen, mit dem Joker zu arbeiten. Wenn, dann ist es meine eigene.''
Dr. Arkham schluckte trocken, bevor er die Hand der jungen Frau umfasste, die diese in seine Richtung ausgestreckt hatte, und leicht drückte.
,,Das ist nicht wahr, Alice'', widersprach der alte Doktor, in einem müden Tonfall. ,,Ich hätte dich besser beschützen sollen, ich hätte, ich-'', er brach ab, um sich zu sammeln.
Sein Herz fühlte sich unsagbar schwer an. Jeder Schlag, erschien ihm schwerfälliger als der nächste. Beladen mit der Erkenntnis, dass er nicht nur sie, sondern auch seinen alten Freund verraten hatte.
Von neuem, wurde er von Alices Handlung überrumpelt: Sie schlang ihre schmalen Arme um seine Schultern und hielt ihn einfach nur fest.
,,Es wird alles gut werden, Amadeus'', flüstertet sie sanft. ,,Auf die eine oder andere Weise, wird sich alles zum guten wenden. Vertrauen Sie mir.''
Sam, der ein wenig abseits, neben der Bürotür stand, beobachtete das Ganze schweigend.
Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte.
Und im Grunde, gab es nichts zu sagen.
Es gab nur die Hoffnung, dass Alice wirklich recht behalten würde.

                                                                       ~~*~~

Noch am selben Tag, hatte Alice ihre wichtigsten Habseligkeiten zusammengepackt und war notgedrungen bei Dr. Miller eingezogen.
Er war gemeinsam mit ihr durch alle Zimmer gelaufen und hatte ihr das nötigste erklärt, damit sie nicht der Gefahr unterlaufen würde, sich irgendwo zu verletzten oder gar zu stolpern.
Nun saßen sie zusammen auf dem kleinen Balkon seiner Wohnung, tranken Kakao, aßen Pizza und blickten in die Nacht hinaus. Die Kombination, war Alices Idee gewesen und Sam musste gestehen, dass sie zwar ungewöhnlich, aber sehr schmackhaft war.
Er war gerade dabei sich ein drittes Stück zu nehmen, als die junge Frau neben ihm, ihre Stimme erhob. Sie klang melancholisch, schien weit entfernt von einem Ort zu kommen, der weit in ihrer Vergangenheit lag.
,,Früher, bevor ich erblindete und mein Vater starb, habe ich solche Dinge häufig mit ihm getan'', sagte sie leise. ,,Wir haben immer eine riesige Decke, eine Thermoskanne und etwas zu Essen eingepackt und haben uns die Sterne angesehen.''
Alice lächelte ihn zwar an, aber er konnte deutlich sehen, dass sie mit den Tränen kämpfte.
Sam hatte bereits erfahren, dass ihr Vater vor langer Zeit verstorben war -Dr. Arkham hatte es ihm eines Tages im Vertrauen erzählt-, aber er hätte Alice niemals selbst darauf angesprochen.
Das hätte er niemals gewagt.
Er mochte Alice und sie waren mit der Zeit zu wahren Freunden geworden, aber es gab dennoch Dinge, über die man nicht leichtfertig sprach, mochte das Vertrauensverhältnis auch noch so stark sein.

Auf halber Strecke, ließ der junge Doktor seine Hand wieder sinken, griff stattdessen nach seiner Tasse und fuhr mit seinem Daumen nachdenklich über einen filigranen Riss, in der Nähe des Henkels. Eigentlich hätte er sie schon längst entsorgen sollen, aber er konnte es nicht. Selbst wenn sie eines Tages zerspringen sollte, würde er sie wieder zusammenflicken und weiterhin benutzen. Von manchen Erinnerungsstücke, mochten sie auch noch so nutzlos erscheinen, konnte man sich einfach nicht trennen.
,,Du vermisst ihn, nicht wahr?'', war alles, was Sam erwidern konnte.
Mehr brachte er nicht über sich.
,,Ja, ganz fürchterlich.'' Ihre Worte waren nicht mehr als ein Flüstern, das anmutig durch die Luft, in seine Richtung tanzte. ,,Aber ich bin mir sicher, dass das nicht das Ende ist. Irgendwann werde ich ihn wiedersehen. Und solange ich ihn in meinem Herzen trage, ist er immer bei mir.''
Ihr Lächeln war zuversichtlich, ihre Tränen leise und dennoch fand er, dass Alice eine der schönsten Frauen war, denen er jemals begegnet war.
Nicht allein aufgrund ihres hübschen Gesichts, sondern ihrer strahlend reinen Seele.
Am Anfang, als er sie zum ersten mal gesehen hatte, musste er gestehen, hatte er sie, wie so viele, als sonderbar abgestempelt.
Und genau das war sie auch, keine Frage.
Alice war wohl das sonderbarste Wesen, das er jemals kennengelernt hatte.
Aber auch das klügste, wunderbarste, und einzigartigste.

,,Ich weiß, wie du dich fühlst, Alice'', entgegnete der junge Mann und nahm einen großen Schluck von der süßlich-herben Flüssigkeit zu sich, bevor er weitersprach. ,,Meine Mutter, war einfach alles für mich. Trotzdem, kann ich mich kaum noch an sie erinnern. Sie starb, als ich noch klein war. Und nach ihrem Tod, musste sich mein Vater um mich kümmern. Wobei von kümmern, kann kaum die Rede sein...''
Sam musste die Worte nicht aussprechen, denn Alice verstand auch so, was er ihr sagen wollte: auch er kannte den grausamen Schmerz des Verlustes.
Das Gefühl unerwünscht oder gar zweite Wahl zu sein.
Sie ließ ihre grauen Pupillen zum Nachthimmel wandern und stellte sich vor, wie schön er sein müsste. Wie strahlend hell und wundersam.
In diesem winzigen Moment, da die Luft so rein und klar war, wie nach einem überraschenden Regenschauer, der über das Land gezogen war, erkannten sie beide, wie unglaublich ähnlich sie sich waren.
,,Ich muss zugeben, ich habe dich wirklich unterschätzt, Sam'', gestand Alice ihm. ,,Am Anfang dachte ich, du wärst genauso engstirnig und festgefahren, wie so viele Menschen, denen ich in meinem Leben begegnet bin, aber das bist du nicht. Ich glaube, im Grunde bist du das genaue Gegenteil davon.''
,,Hört, Hört'', verkündete der Doktor spielerisch, an ein Publikum, das gar nicht da war. ,,Alice White hat mir doch tatsächlich ein Kompliment gemacht. Das muss gebührend gefeiert werden! Wie wäre es mit einem Glas Champagner? Oder einem kleinen Cognac, zur Feier des Tages?''
,,Du Blödmann! Ich nehme alles wieder zurück!''
,,Das geht nicht'', meinte Sam kopfschüttelnd, ,,du hast es gesagt, ich habe es gehört, und damit bleibt es für die Nachwelt bestehen. Keine Diskussion! Und nun würde der Gastgeber gerne erfahren, welches alkoholische Getränk sein Gast bevorzugt.''
Bevor sie ihm antwortete, streckte Alice ihm die Zunge heraus.
,,Ich weiß Ihr großzügiges Angebot wirklich zu schätzen Dr. Nervensäge, aber ich muss es leider ablehnen, ich muss heute noch Auto fahren.''
Das Lachen, dass darauf folgte, war ausgelassen und so voller Lebensfreude, das es auch Dr. Miller ansteckte.
,,Nein, ganz im Ernst'', japste Alice atemlos, ,,ich möchte lieber noch einen Kakao haben.''
Diesen Wunsch konnte der junge Arzt der jungen Dame natürlich ebensowenig abschlagen.
Alice hörte, dass er sich erhob, aber winkte sogleich ab.
,,Bleib ruhig sitzen'', sagte sie, ,,ich mache das.''
,,Sicher?''
,,Aber natürlich! Du hast mir das nötigste gezeigt, außerdem'', sie erhob ihren linken Zeigefinger, ,,probieren geht über studieren. Und wenn ich Hilfe brauchen sollte, rufe ich dich.''
Damit setze sie sich auf, verschloss die Balkontür hinter sich und hatte in wenigen Schritten die weitläufigen Küche erreicht.
Obwohl alles neu und ungewohnt war, hatte sie sich ziemlich schnell zurecht gefunden und ging, nach kurzer Zeit, beladen mit zwei Tassen des heißen Getränkes, wieder zurück.
Im Türrahmen, der den Wohnraum von der Küche trennte, stockte sie mitten in der Bewegung. Denn sie spürte, instinktiv, dass irgendetwas nicht stimmte.
Jemand war bei ihr.
Jemand, der mit Sicherheit nicht Sam war.
Diese Aura war anders.
Erschreckender.
Furchterregender.
Gefährlicher.

Ohne ihn sehen zu können, ohne ihn zu hören, wusste sie, dass er hier war.
Sie wusste zwar nicht, wie er sie gefunden hatte, geschweige denn, wie er sich Zugang zur Wohnung verschafft hatte.
Aber sie wusste warum er nun hier war.

Sprich dein letztes Gebet, Alice.
Der Tag der Abrechnung ist gekommen.


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