- eins -

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Der Laptop gab klingelnde Geräusche von sich, während Jisung schnell alle zu sich auf die Couch winkte.
"Schnell, schnell!", rief er in den Raum und wir versammelten uns um den kleinen Bildschirm. Als Han auf das grüne Symbol für "annehmen" klickte, materialisierte sich dort langsam eine verschwommene Version von unserem Leader.
"Heyyy", krächzte Bang Chan mit dem bisschen Stimme, das ihm noch geblieben war. Es war herzzerreißend, ihn so zu sehen.
"Hi!"
"Chan Hyung!"
"Hey, Chan!"
Alle begrüsten ihn wild durcheinander und winkten ihm aufgeregt zu.
"Wie geht es dir?", erkundigte sich Minho in unser aller Interesse. Sechs Augenpaare starrten gespannt auf den Computer. Es waren nur sechs, denn Jeongin konnte leider nicht dabei sein, da er noch die letzten Wochen seines Militärdienstes ableisten musste.
"Ich..." Chan hustete. Wenn er hustete musste es schrecklich um ihn stehen. Er war derjenige, der mit verletzter Schulter bis zum letzten Beat auf der Bühne stand und mittanzte. Er war derjenige, der sich zu einem Lachen zwang, wenn wir in einem unangenehmen Interview saßen, aber er war ganz sicher nicht derjenige, der nach einer Operation am Kehlkopf hustete, wenn es nicht unbedingt notwendig war.
"Die Operation lief... gut. Die Ärzte... meinten, es... würde mit Reha noch... eine Weile dauern, aber dann... ist meine Stimme..." Ein weiterer schwerer Husten erschütterte seinen fragilen Körper.
"Wow, das klingt doch mal nach tollen Neuigkeiten", sprang Changbin ein, um Bang Chan aus seiner unangenehmen Situation zu erlösen.
"Ja!
"Ja, total."
Zustimmende Worte prasselten aus unserem Haufen und alle nickten eifrig.
"Und? Wann kommst du wieder raus?"
Chan richtete sich in seinem Bett ein wenig auf und schenkte uns ein eingefallenes Lächeln.
"Wenn alles gut geht, ähm... in zwei Wochen."
"Hey hey heyy!" Jisung riss die Arme in die Luft.
"3Racha is back together!" Seine aufrichtige Freude zupfte an Chans Mundwinkeln und animierte ihn zu einem ersten richtigen, wenn auch vorsichtigen Grinsen. Changbin klopfte Han auf den Rücken und murmelte: "Wir wollen mal nichts überstürzen."
Jisung reckte den Kopf nach Changbin und zog empört die Augenbrauen zusammen.
"Warum denn nicht? Songs schreiben können wir auch, während Chan Hyung noch nicht wieder singen kann und Musik mixen sowieso und..."
"Jisung...", unterbrach Chan ihn von der anderen Seite des Anrufs aus und rutschte erneut nervös in seinem Bett hin und her.
"Ich... ich muss mit euch reden."
Mir sank das Herz in die Hose. Ich hatte es seit dem ersten Klingeln nicht mehr gewagt, einen Mucks von mir zu geben. Ich erahnte nichts Gutes.
"Jungs, ich..." Er rang mit sich, nicht wieder zu husten und brauchte einen Augenblick, um weiter sprechen zu können. Ich fühlte kalte Finger, die sich vorsichtig zu meiner Hand vortatsten und sich mit meinen Fingern verschränkten. Ich warf einen kurzen Blick zur Seite. Hyunjins dunkle Augen waren starr auf den Bildschirm gerichtet, denn auch er wusste, dass uns keine guten Neuigkeiten erwarteten.
"Ich habe bereits mit... mit Changbin und... Lino geredet. Und ich habe auch versucht, Jeungin zu kontaktieren, aber das ist... naja... nicht ganz... einfach." Er machte eine Pause, um seiner Stimme die Möglichkeit der Erholung zu geben.
"Meine Stimme... ich werde nicht mehr... singen können." Ein kollektives, geschocktes Raunen erfüllte den kleinen Raum, in dem wir saßen.
"Aber...", begann Seungmin, der genau wie alle anderen im Raum wusste, was diese Nachricht, langfristig betrachtet, zu bedeuten hatte.
"Ja, ich weiß..." Chans Stimme klang blechern durch die Lautsprecher des Laptops. Er rieb sich über die Augen. Er musste wahnsinnig erschöpft sein - nicht nur dieses lange Gespräch oder die Tatsache, dass er vor ein paar Tagen operiert worden war, sondern alles, was er im letzten Jahr hatte durchmachen müssen, hatte ihn beinahe seine gesamte Lebensenergie gekostet. Er gab sich die größte Mühe, uns nichts davon zu zeigen, doch selbst über das verschwommene Bild von ihm konnte ich deutlich sehen, wie tief seine Augen in ihren Höhlen lagen, wie schütter sein Haar geworden war und wie sehr seine Wangenknochen herausstanden, weil er kaum noch mehr war als Haut und Knochen. Tränen brannten in meinen Augen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Hyunjin drückte meine Hand noch etwas fester und ich hörte das leise Schniefen, das er versuchte zu unterdrücken. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter. Ob ich es machte, um ihn oder mich zu beruhigen, wusste ich selbst nicht.
"In... in Absprache mit... JYP und... mit uns selbst sind wir zu dem Entschluss gekommen, dass... es das beste für uns wäre, Stray Kids aufzulösen."
Eine eisige, tonnenschwere Stille legte sich über den Raum, die drohte, uns alle zu erdrücken.
"Bang Chan, das... April Fools war vor vier Monaten..." Seungmin lachte nervös auf. Er knibbelte an seinen Fingern rum und versuchte, diese unerträgliche Stille mit aller Kraft aus dem Raum zu drängen, doch auch er knickte ein, als Chan nur mit entschuldigendem Blick in die Kamera schaute.
"Changbinnie..." Seungmin beugte sich an Jisung vor und versuchte, einen Blick auf Changbin zu erhaschen, der ihm sagen würde, dass das alles hier nur ein wahnsinnig schlechter Scherz war, doch auch Changbin hatte nur dieses unerträglich schmerzhafte Lächeln auf den Lippen.
"Minho..." Seungmins Stimme war nur noch ein gebrochenes Flüstern. Lee Know rang sich nicht mal mehr eine unangenehme Entschuldigung ab. Er stand von der Couch auf und ging ans andere Ende des Raumes, um sich hinzuhocken und das Gesicht in den Händen zu vergraben. Seungmin fing an zu weinen. Er weinte leise, versteckte seine Schluchzer in seinen Knien. Ich ließ den Blick weiter schweifen. Han wirkte wie eingefroren. Seine Hand schwebte nur Zentimeter über der Tastatur und in sein Gesicht war der blanke Horror gemeißelt. Genauso wie für uns alle war Stray Kids sein Leben gewesen, doch für ihn hatte das alles wahrscheinlich noch viel mehr Bedeutung - all die durchwachten Nächte, um den perfekten Text, die ultimative Melodie und den allerbesten Beat zusammen zu schustern. Wie viele unserer Nummer eins Hits hatte er zumindest co-produziert?
Changbin daneben war das krasse Gegenteil. Er rutschte auf seinem Platz hin und her, fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Er hatte es gewusst. Aber wie lange schon? Es musste schon vor der OP festgelegt worden sein. Eine irrationale Wut übermannte mich, während ich ihn ansah. Er hatte es gewusst und kein Wort gesagt. Er hatte uns diesen Videocall machen lassen und genau gewusst, welche Hoffnung es uns schenken würde, Bang Chan wieder zu sehen nach der geglückten Operation - krebsfrei, gesund.
Ich atmete die Wut weg und ließ meine Augen zu meiner Hand wandern. Hyunjin und ich hatten uns hinter das schmale Sofa gehockt, um noch auf dem Bild zu sein.
Wenn es überhaupt möglich war, waren Hyunjins Hände noch kälter geworden, seit er nach meiner gegriffen hatte. Ich wanderte langsam über den Ärmel seines bunten Cardigans bis hoch in sein Gesicht. Unglauben - das war das Wort, mit dem man seinen Zustand wohl am treffendsten beschreiben konnte. Er wirkte gefangen in dem Moment, in dem unser Leader diese verheerenden Worte ausgesprochen hatte, ähnlich wie Jisung.
Und ich? Ich fühlte mich zwischen den Welten. Tausende Gedanken kreisten durch meinen Kopf, keiner jedoch lange genug, als dass ich ihn bewusst hätte wahrnehmen können. Sorgen um Sorgen stapelten sich binnen Sekunden in mir und raubten mir die Luft zum atmen. Mit meiner freien Hand krallte ich mich in die Sofalehne und sah meinen Tränen dabei zu, wie sie nasse Perlen auf dem schwarzen Leder hinterließen.
Irgendwo ganz tief in mir drin hatte ich es gewusst. Stray Kids würde sich irgendwann auflösen, aber das wie und das wann - darüber hatte ich mir nie Gedanken gemacht. Ich war noch nicht mal dreißig. Mehr als zehn Jahre lang war diese Gruppe alles gewesen, das mein Leben ausgemacht hatte - die Musik, die Tanztrainings, die Schlaflosigkeit, die Konzerte, die Videodrehs und vor allem die sieben Member, die mir näher standen als Brüder es hätten tun können.
"Okay, ich denke, ich..." Ich zuckte vor Schreck zusammen, als ich Chan reden hörte. Die infernalisch laute Stille war so einnehmend gewesen, dass ich davon ausgegangen war, nie wieder etwas anderes zu hören.
"Ich lasse euch dann mal..." Er fing an zu husten und ein weiteres Mal brach mir das Herz.
"Nein!", hörte ich mich selber rufen, wusste aber nicht, woher dieses Nein kam. Es war meine Stimme gewesen und es war aus meinem Mund gekommen, aber ich hatte ganz sicher nicht Nein gerufen.
"Du kannst doch jetzt nicht gehen!" Meine Unterlippe zitterte und die paar Tränen, die eben noch aus meinen Augen getropft waren, hatten sich zu fließenden Bächen zusammen getan.
"Oh Felix", krächzte Chan durch den Laptop und schenkte mir ein zittriges Lächeln. Auch er stand den Tränen nah, doch bis zum Schluss wollte er stark bleiben. So wie immer. Diese Idiot.
"Was soll denn das? Du wirst wieder. Du wirst schon wieder..." All diese Worte, sie kamen aus meinem Mund, aber sie kamen nicht von mir. Ich hatte mich von mir selbst entfernt, nahm alles was ich tat wahr, als würde ich einen Film durch meine eigenen Augen gucken. Erst als sich zwei Arme um mich schlangen und mich so fest drückten, dass ich bewegungsunfähig war, kam ich in meinen Körper zurück und spürte Hyunjins verzweifelte Umarmung.
"Yongbok", schluchzte er in einem herzzerreißenden Tonfall.
"Yongbok!" Er weinte meine Schulter nass, quetschte meine Rippen und jammerte so laut und so zerstört in meine Ohren, dass es weh tat, aber es war das einzige, das mir half. Selbst in diesem Moment, in dem meine Welt sich in ihre Einzelteile zerlegte, war Hyunjins Nähe das einzige, das mich bei Verstand hielt.

Parting Ways | HyunlixWo Geschichten leben. Entdecke jetzt