Kapitel 30

301 7 1
                                    

„Wo bist du?"

Seine raue Stimme sorgt dafür, dass meine Beine noch mehr zittern. Ich atme hektisch, versuche mich zu konzentrieren, ersticke beinahe an meinem Ananas-Kaugummi.

„Vor dem Stadion", sage ich. Wo sollte ich auch sonst sein? Aber mein Kopf ist zu konfus, um eine sarkastische Antwort zu geben. „Wo bist du?"

Sobald ich die Frage stelle, verkrampft mein Brustkorb. Ich will doch überhaupt nicht wissen, wo er ist. Da noch immer Tränen aus meinen Augen fließen, wische ich mir mit meinem Handrücken über die Wange, ohne über meine Wimperntusche nachzudenken. 

„Dreh dich um."

Mit zitternden Knien drehe ich mich um, hinter mir rollt ein alter Ford Fiesta auf den Parkplatz, offensichtlich ein Mietwagen vom Flughafen, alle Fenster sind unten, im Radio läuft AnnenMayKantereit, der Motor tourt auf zu hoher Drehzahl und am Steuer sitzt niemand anderes, als Kai, der viel zu groß für dieses kleine Auto ist, weshalb ich nicht anders kann, als bei diesem Anblick aus lauter Verzweiflung und Ahnungslosigkeit heulend loszulachen.

Kai parkt mitten auf zwei Parkplätzen, stellt den Motor ab, steigt unbeholfen aus dem Wagen und sieht mich lächelnd an, solange ich noch immer über den grotesken Anblick verzweifelt lache.

Kopfschüttelnd presst er seine Lippen aufeinander, doch das schiefe Lächeln noch immer in seinem Gesicht. Dann kommt er mit seinen langen Beinen und schnellen Schritten auf mich zu, ich schaffe es so grade, mir noch unter der Brille die Tränen aus dem anderen Augenwinkel zu wischen, bevor er bei mir ankommt, seine Hände in meinen Nacken legt, mich an sich zieht und küsst, als wäre es alles, was er je wollte.

Ich lasse es zu, dass sich seine Hände in meinen Haaren verfangen und obwohl mein ganzer Körper wie erstarrt ist, wissen meine Lippen, was sie tun sollen. Nach einigen intensiven Sekunden löst er sich von mir, atmet tief durch, blinzelt unkontrolliert und sieht mir dann tief in die Augen, sein Gesicht noch immer direkt vor meinem, ich spüre seinen Atem auf meinen Lippen. Ich schlucke meinen Kaugummi herunter und schiebe meine Brille wieder auf die richtige Position. 

„Stimmt es?", fragt er. Mein Herz pocht mir bis in den Hals, ich beiße auf meine untere Lippe.

„Was?", frage ich mit schwerem Atem.

„Wo ist für dich zu Hause?", fragt Kai, steht dabei immer noch viel zu nah mir gegenüber und sieht mich mit großen Augen an. 
Ich atme noch immer schwer und weiß nicht, was er von mir hören will. Die Antwort ist so einfach wie sie nun mal kompliziert ist. Es ist so offensichtlich und trotzdem kann ich es nicht aussprechen. Ich schweige, Kai räuspert sich und lässt mich los.

„Verstehe", sagt er leise und weicht  von mir zurück. Ist er dumm?

„Nein, du verstehst es nicht", sage ich. Kais Augenlid zuckt, er bleibt jedoch abwartend stehen. „Zu Hause ist Aachen, zu Hause ist Leverkusen, zu Hause ist London." Mein Herz wiegt schwer und ich reibe mir einmal durch den Augenwinkel, weil sich wieder eine Träne bildet. „Zu Hause war immer da, wo du bist." Kai sieht mich noch immer schweigend an, dann fahre ich mit brüchiger Stimme fort: „Bis du es mir genommen hast."

„Ich hab' keine Heimat", sagt Kai nickend. Mein Herz setzt einen Schlag aus. „Ich hab' nur dich."

Ich lege seufzend meinen Kopf in den Nacken, die Tränen kommen zurück, ich halte die Luft an. Kai kommt wieder näher, legt seine Arme auf meinen Schultern ab und seine Stirn gegen meine, sobald ich ihn wieder ansehe.
Er zögert, ich sehe in seine blauen Augen, mein ganzer Körper zittert vor Aufregung. Es ist ja nicht so, als hätte er mich eben schon geküsst, doch jetzt sieht er vorsichtig auf meine Lippen hinab, bevor er mir fragend in die Augen sieht. Ich atme aus, nicke unmerklich und dann drückt er so zärtlich und so unschuldig wie nie zuvor seine Lippen gegen meine. Mein Herz explodiert gleich.
Es ist ein so weicher Kuss, dass meine Beine schwach werden. Seine Arme liegen noch immer auf meinen Schultern, trotzdem weiche ich etwas von ihm weg. Ich will ihn weiter küssen, ich will es wirklich. Ich will alles von ihm. Aber er ist immer noch er.

[Kai Havertz] Wer zuerst fälltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt