Kapitel 1 - Regenwetter

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Ich schaue aus dem Fenster. Papa räumt die letzten Kartons in den Kofferraum und schaut zu mir nach oben, wie ich mich in unserer leergeräumten Wohnung umschaue. Er gibt mir ein Zeichen, dass ich runterkommen soll und ich kann auf seinen Lippen lesen: Komm, Maus, wir müssen los!
Ich seufze und bewege mich in Richtung Treppenhaus um langsam die Treppenstufen hinunter zu gehen. Als ich unten angekommen bin, regnet es. Genau, wie in meinem Kopf. Der Himmel ist grau und es ist kalt. Wir haben Anfang September, viel zu früh für Herbstwetter. Ich habe keine Lust, hier wegzuziehen. Ich will bei meinem besten Freund Luis bleiben. Wir kennen uns schon immer, er versteht mich.

„Schau mal, Maus, ich habe dir deinen Lieblingssandwich gemacht!", sagt Papa und meine Mundwinkel heben sich kurz, aber ich sorge schnell wieder für ein Gewittergesicht. Er ist mir viel zu übermotiviert. Logisch, wenn er zur - von ihm sogenannten - Liebe seines Lebens - fährt und sich einen Dreck um mich kümmert. Ich kann schön neu anfangen, mir neue Freunde suchen, ein neues Leben aufbauen, und irgendwie überleben, wenn ich schon bei Papas Freundin Marlene wohnen muss.
Sie hat zwei Söhne - Leo (5) und Anton (8) - und ist auch alleinerziehend. Auf die Jungs freue ich mich am allerwenigsten, die sind bestimmt super nervig.

Ich steige schließlich ins Auto und stecke mir sofort meine Kabelkopfhörer in die Ohren, bevor Papa dieses „Alles-wird-gut-Maus"-Gespräch führen kann. Ich mache mir meine 4-Stunden-lange melancholische Playlist an, ich will nämlich nur noch weinen. Es spielt Rolling In The Deep von Adele und ich schließe die Augen, um Tränen zu vermeiden.

Nach ein paar Stunden öffne ich meine Augen.
„Na, Motte, gut geschlafen? Du hast sehr lange geschlafen, geht's dir gut?" Ich gähne, statt zu antworten schaue aus dem Fenster auf die Straßen.
„Wie lange fahren wir noch?", frage ich. Papa schaut kurz nach links uns rechts, bevor er rechts abbiegt.
„Nur noch fast 10 Minuten!"
Ich schaue auf mein Handy. Es ist 20:36h und auf dem Sperrbildschirm läuft aus Spotify River Flows In You von Yiruma. Wir fahren durch eine dunkle Nachbarschaften mit großen Laternen mit schwachem Licht und bemerke, dass Marlene anscheinend sehr wohlhabend sein muss, bei diesen Häusern hier. Mein Magen knurrt.

„Marlene hat dein Lieblingsessen gemacht: Indisches Butter Chicken mit Nahn Brot!" Erst muss ich lächeln, dann kontrolliere ich mein Gesicht wieder und gucke wieder beleidigt. Soll er sich ruhig schlecht fühlen, dass es mir nicht gut geht. Er seufzt und schaut mich kurz von der Seite an und konzentriert sich wieder auf die Straße. Gut.

Wir steigen aus dem Auto und eine kalte Brise fährt mich durch die Haare. Ich merke, wie Papa schon über die Betonplatten, umgeben von weißem modernem Kies, läuft und klingelt. Ich höre einen harmonischen C-Dur-Dreiklang durch den Hausflur schallen.
Kurz denke ich nach... C, E, G... Ja, meinen Klarinetten-Unterricht musste ich auch aufgeben, aber das macht mir eigentlich nichts aus, ich will eh schon immer lieber Saxophon spielen.
Wenige Sekunden später öffnet eine nett-aussehende Frau die Tür, nimmt Papa in den Arm und küsst ihn. Bäh.
Dann schaut sie an ihm vorbei und strahlt mich an. Sie muss sich wirklich freuen, mich zu sehen...
„Du musst Matilda sein! Es ist so schön, dich endlich kennenzulernen, dein Vater hat mir schon so viel erzählt!"

Ich will nicht, dass sie so nett ist. Sie soll streng, zickig und unsympathisch sein, damit Papa sie für mich verlässt und wir wieder zurück nach Hause ziehen können. Jedoch riecht Essbestecken gut aus der Küche und der Geruch leitete mich wie automatisch in das Haus.
Nach einer unangenehmen Umarmung ziehe ich mir meine Schuhe aus und werde plötzlich von einem langhaarigen, braun-weißen Hund mit rosa Schnauze, dreieckig umgeklappten Öhrchen und wedelndem Schsanz begrüßt.

„Oh, das tut mir Leid, das hier ist Max, ein Australian Shepherd", erklärt Marlene, „Er ist sehr ruhig, also brauchst du keine Angst haben!" Ich habe auch keine Angst.
„Wir haben Max vor 7 Monaten aus dem Tierheim adoptiert!" war ja klar. Wahrscheinlich spendet sie währenddessen auch für Flüchtlingslager und Umweltschutzprojekte, um zu zeigen, dass sie nicht wie die anderen Teichen Menschen ist.
Ich hocke mich runter zu Max und streichle ihm über den Kopf.

Nach dem späten, zugegebener Weise sehr leckeren Abendessen, bin ich hundemüde und Papa holt deswegen das nötigste Zeug für die erste Nacht aus dem Kofferraum und bringt es hoch in mein neues Zimmer. Dieses ist riesig, mit hohen Decken und einem kleinen Balkon mit Outdoor-Sessel nur für mich. Marlene hat gesagt, dass Leo und Anton das Zimmer für mich ausgesucht haben und sie das super fand, weil es so groß ist und viel Platz hat.

Sie ist wirklich zu nett. Als ich gerade noch wütend sein will und überlege, Luis zu schreiben, schlafe ich auch schon ein.

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