Kapitel 3 - Der erste Schultag

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Ich sitze an der Kücheninsel und esse mein Müsli. Es ist 07:13 am Morgen. Alex hat mir gestern angeboten, dass sie und ihr Freund Kai mich mit zur Schule nehmen können. Ich habe natürlich Ja gesagt, ich hassen Bahn oder Bus fahren.

Um 07:36h stehe ich vor meiner Haustür... (Meine Haustür... Das zu sagen, fühlt sich wirklich komisch an)... und ich sehe Alex, wie sie auf mich zukommt und lächelt. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer, wahrscheinlich, weil ich sie so lange nicht gesehen habe. Ich muss auch grinsen. Ich nehme meine AirPods raus und ignoriere den besten Teil von „National Anthem" von Lana Del Rey, was ziemlich wehtut, da ich dort in der Dusche immer am lautesten mitsinge.
„Hey, Du. Guten Morgen", sagt Alex gut gelaunt und ich rücke ein Stück weiter zu ihr während ich sie zurück grüße.
„Und, aufgeregt?"
„Ein bisschen, um ehrlich zu sein..."
„Alles gut, das wird schon. Du hast ja mich!"
Hoffentlich geht wirklich alles gut. Ich habe mehr Angst, als ich eigentlich zugeben möchte. Ich habe schließlich noch nie einen Schulwechsel erlebt. Ich habe mein ganzen Leben in Hamburg verbracht. Ohne Pause, nie woanders.

Ein Auto fährt an meinem Haus vorbei und hält vor dem von Alex. Das muss ihr Freund, Kai, sein. Er ist groß, hat breite Schultern aber einen viel zu kleinen Kopf mit hellbraunen Haaren. Was hat Alex an ihm, wenn es ihm anscheinend so an Empathie fehlt? Am Aussehen liegt es offensichtlich nicht. Keine Ahnung, warum das in meinem Kopf so eifersüchtig klingt. Ich gönne ihr einfach nur was besseres. Das ist alles. Kai steigt aus dem Auto, geht auf Alex zu und küsst sie. Sie schlingt ihre Arme und seinen Hals und ich sehe sie nur halb von der Seite, als sie sich umarmen. Sie sieht aus, als würde sie sich unwohl fühlen...

Ich gehe alleine durch die Schulflure in München. Alex hat jetzt Chemie und ich Englisch. Als ich im Klassenraum ankomme, setze ich mich sofort nach ganz hinten, um nicht aufzufallen.

„Guten Morgen an alle", sagt die Lehrerin mit hohen Schuhen, grauen Haaren in einem strengen Dutt, und einer Brille, die auf ihrer Nase sitzt. Wie aus dem Bilderbuch.
„Gu-ten Mor-gen Frau Schiff-ler", sagen die Schüler im Kanon, wie in der Grundschule. Ich muss grinsen. Wann habe ich das das letzte Mal gehört?

Es stellt sich heraus, dass sich alle vor Schulanfang eine Lektüre kaufen sollten: „The Perks of Being a Wallflower" ... Kenne ich nicht. Ich schreibe mir den Namen in mein Notizbuch, und plötzlich tippt mir jemand dreimal mit dem  Zeigefinger auf die Schulter. Ich zucke zusammen.
„Hey, na? Ich bin Nils, bist du neu hier?", fragt der Junge, und ich bemerke, wie er mich einmal von oben nach unten und wieder nach oben scannt und sich mit den Zähnen auf die Lippe beißt. Ew.
„Genug geglotzt?", frage ich zurück. Er lächelt nur und zuckt mit den Augenbrauen.
„Das nehme ich mal als ein Ja. Ich hab schon von Kai gehört. Matilde, richtig?"
„Ich heiße Matilda, aber ja", sage ich und verdrehe unauffällig die Augen.
„Lass uns mal treffen, Matilda. Am See? Gib mir einfach mal deine Nummer und ich texte dir dann, hast du Snap oder Insta?", meint er zu mir und zwinkert mir mit einem Auge zu.
„Vielleicht. ...irgendwann mal... in deinen Träumen" schiebe ich leise hinterher.

Nach Schulschluss treffe ich mich mit Alex vor dem Haupteingang. Heute Mittag isst sie bei uns mit. Marlene meinte, dass das hin und wieder regelmäßig passiert, wenn sie einen Ort zum zurückziehen braucht. Warum, wollte sie mir nicht sagen. Zum Mittagessen gibt es Papas Lieblingsessen. Spätzle mit Gulasch und Kochgemüse. Marlenes Essen ist wirklich sehr lecker, so ungern ich es auch zugeben möchte. Den Rest des Nachmittags verbringen wir in meinem Zimmer, indem wir stundenlang reden.

„Willst du schwimmen gehen?", kommt es aus dem Nichts und ich schaue zu ihr hoch.
„Ja schon, aber es ist halb zehn, die Schwimmbäder sollten jetzt alle schließen", sage ich langsam.
„Klar, das weiß ich natürlich. Ich hab doch 'n eigenes bei mir, schon vergessen?", meint sie lächelnd. Ich muss auch lächeln und ein paar Minuten später gehen wir beide los. Zum Glück habe ich neulich beim Auspacken meine Bikinis und Badeanzüge gleich auf den Sessel geworfen, deswegen schnappe ich ihn mir auch sofort.

15 Minuten später sitze ich mit einem Handtuch um mich gewickelt am Beckenrand und sehe Alex zu, wie durch's Wasser von einem zum anderen Beckenrand gleitet. Als sie aus dem Wasser auftaucht und mich fragt, ob ich reinkommen will, verbringen wir eine Weile zuzweit im Becken.

„Hunger?", fragt Alex 20 Minuten später, als wir aus dem Schwimmbecken steigen.
„Bärenhunger!", stimme ich ihr zu. Wie machen uns auf den Weg nach draußen. Wie im Film sitze ich auf dem Fahrradträger, sie auf dem Sattel und wir fahren durch die Straßen Münchens mitten in der Nacht, wo nur die Ampeln leuchten. Wir halten Ausschau wo der nächste Imbiss ist und setzen uns in einen Dönerladen.
Alex kauft sich einen türkischen Salat mit Falafel und ich mir eine simple Portion Pommes.

Auf dem Rückweg schieben wir das Fahrrad und quatschen die ganze Route lang. Als wir an Alex Haustür ankommen, umarmen wir uns und ich gehe ein Haus weiter zu mir. Ich laufe über den Kiesweg, meine Hände in die Jackentaschen gesteckt und schaue auf den Boden, während ich versuche, mit den Füßen nicht die Rillen zwischen den Betonplatten zu berühren. Doch ein paar Schritte weiter sehe ich zwei schwarze Schuhe direkt vor meinen und ich schaue hoch. Papa. Er schüttelt nur den Kopf und ich kann schon sehen, was jetzt kommt.
[...]
„Wo zur Hölle warst du?!", schreit er mich an.
„Ich war schwimmen."
„Lüg mich verdammt noch mal nicht an Matilda! Ich bin nicht dumm, alle Schwimmbäder haben bereits geschlossen!"
„Ich weiß. Aber Alex hat ein Becken bei sich", sage ich.
„Gut zu wissen, Alex war also auch noch dabei." Er sieht aus, als hätte er gar nicht mehr die Energie dazu, mich anzuschreien. Ich nicke vorsichtig.
„4 Stunden lang?"
„Wir waren auch essen. Nach schwimmen hat man immer einen unglaublichen Hunger!"
„Erzähl mir nichts, Madame! Ich habe dich 5000 Mal angerufen!"
„Mein Handy ist alle...", sage ich und halte ihm meinen Bildschirm ins Gesicht.
„Hausarrest", sagt er emotionslos.
„Aber- das kannst du nicht machen! Bitte Papa-"
„Keine Wiederrede!", unterbricht er mich und zeigt wortlos mit seinem Zeigefinger auf das Treppenhaus. Das heißt wohl ‚ab aufs Zimmer'.

- Der nächste Tag -

Es ist 6:30 und mein Wecker klingelt. Ich hab was ganz schlimmes geträumt... Papa hat mir Hausarrest gegeb-... warte, das ist wirklich passiert! Fuck... Ich stehe seufzend auf und schlurfe in mein eigenes Bad um mir mein Gesicht zu waschen. Als ich fertig angezogen und fertig gemacht in die Küche komme, schaut Papa mich mit einem finsteren Seitenblick an und guckt grimmig wieder weg. Ich kann sehen, wie er den Kopf schüttelt. Ich seufze nur. Ist mir doch egal. Soll er halt wütend sein. Ich habe eh keine Freunde mit denen ich abhängen kann, und Alex kann bestimmt vorbei kommen. Und wenn er Nein sagt, setzt sich Marlene 100% für sie ein. Ich ziehe mir Schuhe an und greife nach meinem Rucksack.
„Nichts zu essen?", fragt Pap dann doch.
„Keinen Hunger", rufe ich und mache die Tür hinter mir zu. Das ist gelogen. Ich werde heute in der Schule verhungern. Ich wollte nur nicht neben Papa sitzen und essen. Da warte ich lieber bis heute Mittag.

- 13:00h -

Ich treffe mich draußen mit Alex und wir laufen zusammen nachhause. Nächste Woche Samstag macht ein neuer Club auf und alle gehen hin. Ich will zusagen, aber dann fällt mir der Hausarrest ein, den Pap mir verpasst hat. Traurig lasse ich den Kopf hängen.
„Hey! Nicht traurig sein, wir gehen das nächste mal, und zwar zu zweit!"
„Quatsch", widerspreche ich: „Ich werde mich raus schleichen!" Irgendwie wird das schon klappen.

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