Kollateralschaden

12 1 0
                                    


Selbst wenn die Welt um einen herum in Flammen steht, alles in sich zusammenbricht und zu Asche verbrennt, dreht sich das Rad des Lebens erbarmungslos weiter.
Man hört die Uhr in der Ferne ticken.
Die Zeiger wandern.
Sekunden vergehen.
Minuten verstreichen.
Alles dreht sich weiter und weiter.
Selbst, wenn man es selbst nicht kann.
Selbst, wenn man das Gefühl hat, dass man dabei zerbricht, dass alles zerfällt und vergeht, bleibt die Zeit nicht stehen.

Genauso fühlte sich Alice in jenem Augenblick, nachdem die Worte des Jokers verklungen waren. Das Echo schien in ihrem Innern widerzuhallen. Schien jeden Zentimeter ihres Seins auszufüllen und dennoch, stand sie einfach nur da und reagierte nicht.
Sie konnte sich nicht rühren.
Sie war so starr, als hätte sie ein antiker Künstler in Stein gemeißelt.

Der Joker, der das Ganze aus neugierigen Augen betrachtete, kam in zwei großen Schritten auf sie zu, um ihre Schulter zu berühren, damit sie wieder aus ihrer Starre erwachte.
Aus seinem Augenwinkel konnte er sehen, dass der Doktor zusammen zuckte und mit sich kämpfte, um nicht auf den Clown loszugehen.
Er war nicht dumm. Soviel konnte man ihm zugestehen.
Er wusste ganz genau, dass der Unruhestifter nun derjenige war, der den Ton angeben würde. Jeder Versuch, ihn daran zu hindern, konnte für sie beide tödlich enden. Und das wollte er nicht riskieren.
Noch nicht.
Hoffnung, das war alles, was er noch hatte.
,,Alice, bist du noch anwesend?''
Der Joker strich ihr grob das Haar aus der leicht verschwitzen Stirn und grinste breit, als er spürte, dass sich ihr Körper ein weiteres mal verkrampfte.
Sie wirkte apathisch, aber er konnte ihr Gehirn förmlich rattern hören.
,,Ah'', schmatze er genüsslich, beinahe zärtlich, ,,also steckt doch noch Leben in dir. Fragt sich nur, wie lange noch, ha ha.''
Damit bückte er sich hinunter, suchte nach dem Messer, das genau vor Alice linkem Fuß gelandet war und hob es auf. Dann umfasste er ihr Handgelenk, winkelte ihren Arm an und zwang sie dazu, den Griff der Klinge, mit ihren steifen Finger zu umschließen.
Dumpf registrierte Alice, wie unsagbar warm seine Hand, im Vergleich zu ihrer war.
Wie kraftvoll und im richtigen Moment, tödlich.
,,Das erste mal ist immer schwer'', seufzte der Geschminkte, mit einem wissenden Nicken. ,,Da habe ich schon Verständnis für, ich bin ja kein Unmensch. Also, nicht so ganz'', er kicherte amüsiert, als hätte er einen Witz gemacht, den nur er allein verstand. ,,Aber, ich brauche so langsam eine Entscheidung von dir. Die Uhr tickt, Alice. Tick, tack. Tick, tack. Also, wie lautet die Antwort?''
,,Ich, ich...''
,,Jaaa?''
,,Ich, ich kann nicht.''
Tränen sammelten sich in ihren blauen Augen, die sie fort zublinzeln versuchte.
Während er auf den Innenseiten seiner Narben herum kaute, beobachtete der Joker, wie die glitzernde Flüssigkeit aus ihrem Augenwinkel über ihre blasse Wange rollte.
Ausgiebig seufzend, umfasste er ihr Kinn, drehte ihr Gesicht zu ihm und zischte, gefährlich leise:
,,Es ist keine Frage des Könnens, Alice, sondern des Wollens. Du musst wollen, ansonsten lohnt sich all die Mühe nicht. Halbherzigkeit ist hier fehl am Platz. Entweder, ganz oder gar nicht. Kein Vielleicht. Kein Wenn und Aber. Versteh' mich nicht falsch, ich zwinge dich nicht, Liebchen. Es liegt alles in deinen Händen'', dabei presste der Joker seine Finger so feste in ihre Haut, dass der Schmerz durch ihren gesamten Kiefer ausstrahlte.
Abrupt ließ er sie los, trat einen Schritt zurück und verkündete:
,,Und wenn du nicht willst, mache ich es liebend gerne selbst. Ich bin sowieso ein klein wenig aus der Übung.''
Er ließ langsam seine Fingerknöchel knacken und bereitete sich auf das große Crescendo vor.
,,Nein!'', rief Alice sofort aus.
Das letzte, was sie wollte, war, dass der Joker es selbst tat.
Sie wusste, er würde keinen Funken Gnade zeigen. Er würde Sam quälen, ihn erniedrigen und das Ganze auch noch in vollen Zügen genießen.
,,Aber'', fuhr sie zittrig fort, ,,aber, was ist das denn für eine Wahl?''
Ein breites Grinsen, war die Antwort darauf, und:
,,Die einzige, die du kriegen wirst, Alice. Also, aller.letzte.Chance. Entscheide.''
Verstehst du denn nicht?, meinte ihr rasend arbeitender Verstand. Genau das ist der Punkt: Du hast keine Wahl. Sam soll so oder so sterben. Entweder durch seine oder durch deine Hand. Es geht in erster Linie nicht um ihn. Sondern um dich.
Er ist nur ein weiterer Kollateralschaden, den der Joker gerne in Kauf nimmt, solange er an dich heran kommt.
Es gibt keinen Ausweg.
Es ist vorbei.
Du hast das Spiel begonnen, als du angefangen hast mit ihm zu arbeiten und nun, musst du es zu Ende spielen.

Diese Erkenntnis, traf Alice so hart und unvermittelt, wie die Wucht einer Abrissbirne.
Weil sie erkannte, dass sie den Joker in gewisser Weise unterschätzt hatte.
Nicht seine Bereitwilligkeit zu töten.
Oder gar seine unmenschliche Grausamkeit.
Sondern sein Interesse an ihr. Dass von schier zerstörerischer Natur war.
Der Joker spielte seine Spielchen, nicht mit jedem dahergelaufenen Menschen.
Die Meisten tötete er einfach nur, weil es eben dazu gehörte.
Sie waren nur Mittel zum Zweck.
Aber es gab nur wenige, die sein Interesse so sehr weckten, dass er seine ganze Kraft und Mühe darauf verwendete, sie zu brechen.
Harvey Dent, war so jemand gewesen.
Und nun war es Alice.
Die Frage war nur, ob sie diese Form der Aufmerksamkeit wirklich wollte.

Es gibt nur einen möglichen Weg, damit Sam überleben kann, drängte ihr Verstand sie dazu, endlich zu handeln. Du kannst es! Du musst dich nur konzentrierten. Du hast nur diese eine Chance.
Und sie konnte nur hoffen, dass es dem Joker genügen würde.
,,Ich, ich werde es tun'', wisperte die junge Psychologin hohl, beinahe tonlos.
Sie hatte das Gefühl, dass sie gar nicht mehr wirklich anwesend war. Ihr Körper und ihr Geist, schienen sich voneinander getrennt zu haben. Ersterer funktionierte nur noch.
Der tat die Dinge, die getan werden mussten.
Dieser trieb sie dazu an, auf Sam zuzugehen, ihre Finger so feste um den Griff des Messers zu legen, bis ihre Knöchel weiß hervor traten – sie wirkten beinahe wie die eines Skeletts.
,,Es tut mir Leid, Sam'', kam es flüsternd von ihren bebenden Lippen.
Mehr konnte sie nicht sagen.

Die Tränen erstickten alles weitere.
,,Es ist ok'', erwiderte der junge Doktor sanft.
Und das war es auch.
Sie würde leben, er sterben.
Ein fairer Tausch, das fand er zumindest.
Alice atmete einmal tief durch und stach dann zu.
Einmal. Zweimal.
Sam und das Messer prallten auf den Boden.
Dann wurde alles still.
Das einzige, das noch zu vernehmen war, war das Gelächter des Clowns.
Er gackerte vor sich hin, als wäre all das hier, der Witz des Jahrtausends.
Als wäre das Töten eines Menschen, nur ein weiteres Hobby, eine weitere Sportart, dessen Trophäe er an seine bunt geschmückte Wand hängen konnte.

Nachdem sein Gelächter abgeklungen war, trat der Joker auf den am Boden liegenden Mann zu, ging seitlich neben ihm in die Hocke und öffnete mit Daumen und Zeigefinger, dessen geschlossene Augenlider.
,,Also, äh, ich würd' sagen, der ist vorläufig hinüber.''
Er sah zu Alice hinüber, dessen zarte Silhouette, sich beinahe geisterhaft, von dem Rest ihrer Umgebung abhob.
Sie war kreidebleich.
Ihre zierlichen Finger – blutverschmiert.
Ihre blassen Wangen – nass und gerötet.
Kurzum: sie sah wirklich katastrophal aus.
Und dennoch fand der Joker, dass sie niemals hübscher ausgesehen habe, als sie es nun tat.

Ihr klar zu erkennender Schmerz, ihre Trauer, übte eine noch stärkere Anziehungskraft auf ihn aus, als ihre offensichtliche Schönheit.
Gerade als sich der Clown wieder langsam auf sie zubewegte, er sie fast erreicht hatte, gaben ihre Beine unter ihr nach, so dass sie bewusstlos in seinen Armen landete.

DämmerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt