Kapitel 4

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~Seth

Ich wünschte, ich hätte einfach nein gesagt. Früher war das kein Problem gewesen, mein Lieblingswort sozusagen. Aber das war gewesen, bevor ich die Achtung vor mir selbst verloren hatte. Ich hatte mir die Scheiße eingebrockt, ich musste sie ausbaden. So einfach war das. Und damit meinte ich nicht, nicht 'nein' gesagt zu haben. Das war eher Teil des Ausbadens.

Konzentriert umwickelte ich meinen Arm mit schwarzem Tape, während ich im Augenwinkel sah, wie Azrael und Osiris ihre Instrumente ein weiteres Mal stimmten. Nachdem ich die letzte Woche jede freie Minute mit der Band verbracht hatte, kannte ich mittlerweile ihre Namen und hatte mich daran gewöhnt, dass Phil Azrael gerufen wurde. Meistens konnte ich sie sogar auseinander halten. Ich wusste, dass Osiris, der eher schweigsame Bassist, Schotte war und niemand ein Wort verstand, wenn er doch mal etwas sagte. Außerdem hatte ich mitbekommen, dass der Keyboarder Leviathan ganz offensichtlich etwas von Lilith, dem hübschen Goth-Mädchen am Schlagzeug wollte, die keine Gelegenheit ausließ, ihn brutal zu korben. Und dass Phil, den ich seit einigen Tagen Azrael nannte, so grausam fröhlich-optimistisch war, wie... wie ich es sonst nur von Matt gekannt hatte. Mir fuhr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Angestrengt stieß ich den Atem aus und konzentrierte mich auf die Tapebahnen, die ich auf meinem Arm anbrachte. Mein Tape-Konsum war die letzten Tage astronomisch angestiegen. Zunächst, weil ich das Kunststück Azrael und Co ungefähr ein Dutzend mal hatte vorführen müssen und danach, weil ich üben musste, zu singen, unauffällig meine Arme anzuzünden und dabei noch irgendwie episch auszusehen. In Kombination war das schwerer als gedacht.

Ich riss das Tape ab und drückte das Ende an meinem Handgelenk fest. Dann wanderte mein Blick zu dem bodenlangen Spiegel, der vor mir stand. Mittlerweile schaffte ich es, mir die Arme so zu tapen, dass ich sie dennoch bewegen konnte und es außerdem nicht so aussah, als würde es sich um billiges Tape vom nächsten Discounter handeln. Dieses hatte mir allerdings bisher die besten Dienste erwiesen. Der Rest meiner Erscheinung wirkte so vertraut, dass es mir beinahe zynisch vorkam. Das Kostüm, das auf der Bühne getragen wurde, sah aus wie die verdammte Rebellenrüstung. Pechschwarz, ausladender Umhang, alles insgesamt etwas leichter und eben mehr auf die Optik, als auf Kampftauglichkeit ausgelegt, aber... ich sah aus wie ein zu blond geratener Vampir und das kam mir tatsächlich gruselig vertraut vor.

Ich holte tief Luft und stieß langsam den Atem aus. ,,Ich geh' noch eine rauchen."

,,Seth!" Azrael sah von seiner Gitarre auf und bedachte mich mit dem Lächeln einer Mutter, die ihrem Kind erklären musste, dass Schokolade kein vollwertiges Abendessen darstellte. ,,Ich war die letzte halbe Stunde schon drei Mal mit dir rauchen und wir müssen in drei Minuten auf der Bühne stehen. Du rauchst jetzt nicht mehr."

Ein Teil von mir wollte wie ein fünfjähriges Kind mit dem Fuß aufstampfen und ,,Ich gehe rauchen wann immer ich möchte!" jammern, aber erstaunlicherweise setzte sich diese Seite nicht durch. Stattdessen seufzte ich nur und zupfte nervös an dem Stoff meines Umhangs herum. Ich wusste, was ich wann zu tun hatte, das hatten wir gestern zur Genüge geübt. Ansonsten war es eigentlich auch nichts anderes als die Straßenmusik.

Ich hatte das Gefühl, sämtliche Songtexte, die ich mir in den letzten Tagen ins Hirn geprügelt hatte, vergessen zu haben. Außerdem fühlte ich eine innere Anspannung, ein Gefühl, das mich sehr stark an den Hunger nach Seelen erinnerte. Aber seit ich kein Gott mehr war, brauchte ich keine Seelen mehr. Es war eher die psychische Abhängigkeit nach dem berauschenden Gefühl der Macht, das ich empfunden hatte, wenn ich eine Seele genommen hatte. Seit ich das nicht mehr konnte, fühlte sich alles grau und leer an. Es wäre nett gewesen, wenn sich diese Gleichgültigkeit auch auf den Auftritt gleich übertragen hätte, aber das tat sie nicht - ich war unglaublich nervös. Mein einziger Lichtblick waren das Geld, das ich dafür erhalten würde und die Tatsache, dass ich einer Halle von tausend Leuten offen meine Fähigkeiten -oder das, was davon übrig war- demonstrieren würde, in dem Wissen, dass das den Göttern gar nicht gefallen würde. Diese Eigenschaft würde ich wohl niemals ablegen.

,,Seth." Als ich aufsah, stand Azrael vor mir und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. ,,Es ist soweit. Du machst das schon. Die werden dich großartig finden, du wirst schon sehen. Sieh am besten einfach nicht nach unten." Er tätschelte ein letztes Mal meine Schulter, dann rauschte er an mir vorbei und verschwand schließlich hinter der Tür. Gedanklich zählte ich bis fünf, dann holte ich tief Luft und tat es ihm gleich.

Das Scheinwerferlicht blendete mich, als ich hinter Azrael als Letzter auf der Bühne erschien. Das Klatschen der Menschen unter mir, die Klänge des ersten Liedes - das alles nahm ich wie durch Watte wahr. Als wäre ich durch eine Roboterversion ersetzt worden, die das ganze irgendwie für mich erledigte. Ich funktionierte. Das tat ich immer.

Der Bass vibrierte unter meinen Stiefeln, als ich meinen Platz vor dem Mikrophon einnahm und selbstverständlich nach unten sah. Eigenartige Perspektive.

Glücklicherweise fiel mir kurz vor meinem Einsatz dann auch der Songtext wieder ein und dann tat ich wesentlich souveräner, als ich mich fühlte, genau das, wofür ich bezahlt wurde. Singen, hin und wieder so bewegen, dass der Umhang episch hinter mir flatterte und dabei möglichst nicht mehr nach unten sehen. Das schien soweit zu funktionieren, denn als das Lied zuende war, verließ immerhin niemand fluchtartig die Halle und das Geräusch, das ertönte, klang nach mehr Beifall als nach Buh-Rufen.

Ich stieß leise die Luft aus, die ich schon eine Ewigkeit angehalten haben musste, während Azrael, ganz in seinem Element, die Menge begrüßte und mich schließlich als ihr neues Mitglied vorstellte. Ich deutete eine Verbeugung an und verhedderte mich prompt zwischen Umhang und Haaren, als ich mich wieder aufrichtete. Das dumme Ding war doch wesentlich leichter und wendiger als der Umhang der Rebellenrüstung. Glücklicherweise bemerkte Azrael mein Problem und lenkte die Aufmerksamkeit erneut auf sich, was mir die Zeit verschaffte, die ich brauchte, um den Umhang zu sortieren und mich auf das nächste Lied vorzubereiten. Mein Blick glitt kurz über die Bühne, das erste Mal, seit ich hier stand. Sie war in rotes Licht getaucht, hinter uns hing das Banner von Inferno. Überall auf der Bühne standen brennende Segmente, vorne war Pyrotechnik aufgebaut worden, die erst jetzt in Betrieb genommen wurde. Darauf freute ich mich tatsächlich irgendwie - ich liebte es nach wie vor, mit dem Feuer zu spielen. Es war diese eigenartige Mischung aus Freude und Wehmut, wenn ich das Feuer auf der Haut spürte.

Ich nutze die Pause, die mir das Gitarrensolo des nächsten Liedes verschaffte, um weiter nach vorne zu gehen. Neben mir schossen die Feuersäulen der Flammenwerfer hoch und ließen meinen Umhang zur Seite flattern. Die Bühnentechniker hatten vorhin bereits einen halben Nervenzusammenbruch erlitten, als sie gesehen hatten, wie nahe ich den Dingern gekommen war. Als das Feuer das nächste Mal aufflammte, breitete ich die Arme aus und hielt sie in die Flammen. Zu nahe für einen gewöhnlichen Menschen. Der schwarze Stoff fing augenblicklich Feuer. Es fraß sich meine Arme hinauf und ich genoss die Wärme, die in mir aufkam. Einen Augenblick blieb ich genauso stehen - mit ausgebreiteten, brennenden Armen, zwischen den Flammenwerfen, während die Flammen um mich herumtanzten. Ich blendete die Menschen unter mir aus, die mit gezückten Handys filmten und genoss stattdessen diesen kurzen Moment, in dem ich mich wie ich selbst fühlte. Umgeben von Feuer, das mir nichts anhaben konnte, das ein Teil von mir war.

Aber es war nach wie vor nicht mein Feuer. Mit diesem Gedanken prasselten dutzend andere auf mich ein. Ich könnte jetzt meine echte Rebellenrüstung tragen und kein Benzin und kein Feuerzeug brauchen, um meine Arme zum Brennen zu bringen. Ein Internat einnehmen, einen Gott töten... Stattdessen stand ich auf einer Bühne in England und ließ mich von Leuten begaffen, für die es nicht alltäglich war, einen Kerl mit brennenden Armen zu sehen. Für verdammtes Geld. Um eine Schule für reiche Schnösel-Kinder zu bezahlen, für die ich eigentlich schon viel zu alt war.

Ich senkte den Blick und ließ ihn über das Meer von Menschen unter mir schweifen. Es fühlte sich surreal an. Wie ein Traum - ich war mir nicht sicher, ob ein guter oder ein schlechter. Sollte das nun meine Zukunft sein?

Ich wusste es nicht. Ich hatte keine Ahnung, wohin mit mir und manchmal hoffte ich immer noch, aus diesem Albtraum zu erwachen. Aber das würde nicht geschehen.

Ich ließ die Arme sinken und eilte zurück zu meinem Mikrophon. Vielleicht war das hier zumindest ein Anfang.

Inferno - Todessohn IIIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt