Sie rutschte beinahe ab, weil die Treppe so glatt war. Zwei Paar Augen beobachteten sie dabei, vollkommen schockiert. Sie wusste, wie sie aussehen musste in ihrer Schutzkleidung. Ein Monster, das einem Albtraum entsprungen war. Die Kinder ergriffen die Flucht zurück nach oben, doch sie schlitterten dabei nur gefährlich nahe an die Abbruchkante. Cress war in wenigen großen Schritten bei ihnen, packte den Jungen um die Taille und riss ihn mit sich in die Schlucht hinunter. Sie spürte die Hitze des Plasmastrahls, der dort einschlug, wo sie gerade noch auf dem Stein der Treppe gestanden hatte. Sie fiel, das schreiende Kind an sich gepresst. Sie versuchte ein Seil zu erwischen, griff aber daneben. Sie hatte das Gewicht des Kleinen unterschätzt und überlegte kurz ihn loszulassen. Dann rastete ihr Handschuh um ein anderes Seil ein, tiefer als angesteuert. Schmerz zuckte ihren Arm hinunter.
„Bist du okay?"
„Alles bestens", ächzte sie.
„Du bist auf der sechs", kam es laut von Kieran. „Mach, dass du da wegkommst, sie sind auf dem Weg zu dir. Alle."
Cress fluchte. Sie sah dem Jungen in die angstgeweiteten Augen.
„Ich hab dich", sagte sie und ließ los. Zusammen stürzten sie im freien Fall durch einen der Korridore zwischen den Seilen. Sie wusste nicht, was mit dem zweiten Kind war, oder was der Schatten, der ihr auf den Fersen gewesen war, tat. Sie musste hinunter zu ihrer Verstärkung, bevor man sie erwischte. Damit das Geschrei sie nicht verriet, hielt sie dem Kleinen den Mund zu.
„Die ist so wahnsinnig", hörte sie Kieran, während sie fiel. „Habt ihr das gesehen? Das erzähl ich mal meinen Enkeln."
„So lange lebst du nicht", gab ein anderer Club zurück. Cress landete auf einem Connector, um ihren Fall zu brechen. Das Metall ächzte unter ihr und einer ihrer Stiefel rutschte über den Rand. Wenn sie sich jetzt einen Fehler erlaubte, wenn sie jetzt nervös wurde, dann waren sie und ihr Preis tot. Sie griff in den schwarzen Beutel um ihre Hüfte und zog ein dünnes Seil heraus, mit dem sie den Jungen fesselte. Er wehrte sich so sehr, dass sie beinahe beide von der Plattform fielen.
„Jemand muss ihn nehmen", sagte sie.
„Hastings ist auf dem Weg. Was ist los?"
„Hearts."
Das Wort schlug ein wie eine Bombe.
„Lass ihn dort, Hastings holt ihn. Komm sofort da runter."
Cress ließ das Kind auf dem Connector. Es hatte sich in die Hose gemacht und sie machte ihm keinen Vorwurf. Den harten Teil hatte sie gemacht – jetzt konnte ihn jemand anderes aus den niedrigeren Netzen nachhause tragen. Sie musste ihre eigene Haut retten.
„Cress", kam es irgendwann aus den Lautsprechern, als sie schon einen Kilometer entfernt war. „Sie ist dir gefolgt."
Sie drehte sich um und spähte in den Regen. Seit Tagen hatte sie das Gefühl, verfolgt zu werden. Nun wusste sie auch wieso. Sie zog den Seitenschneider anstatt ihrer Waffe. Wenn ihre Verfolgerin kam, konnte sie den Connector auf einer Seite losmachen und sie hoffentlich zum Abstürzen bringen. Es war sehr seltsam, dass jemand es sich antat, Cress durch die Netze zu verfolgen. Das auch noch bei Regen. Ein leises Pfeifen und ein „Oh" kamen aus dem WalkieTalkie.
„Was?"
„Sie wäre gerade fast gefallen", murmelte Kieran.
„Hat sie aufgegeben?"
„Nein, wieder auf Kurs. Hast du was ausgefressen?"
„Das wüsste ich auch gerne."
„Okay, sie ist um die Kante. Ich sehe euch nicht mehr."
Mit einer Hand um eines der Seile, die beinahe senkrecht nach unten liefen und den Connector aufspannten, und dem Werkzeug in der anderen, wartete sie. Doch der Schatten der Hearts kam von hinten. Sie wusste, dass es Siva war, sobald sie sich auf sie stürzte. Sie wusste auch, dass sie wütend war. Cress WalkieTalkie taumelte als erstes in die Tiefe und fast wäre sie ihm gefolgt. In den Netzen zu kämpfen war die dümmste Idee, die es gab. Cress wich einem Bein aus und wäre beinahe kopfüber abgestürzt. Sie zog es vor, das nicht zu tun und fand sich einige Meter tiefer Gesicht zu Gesicht dem Schatten der Herzdame gegenüber. Sie hingen beide am gleichen Seil und versuchten gegenseitig die Zähne ihrer Handschuhe aufschnappen zu lassen. Siva spuckte Cress ins Gesicht.
„Was?", fragte Cress. „Ich habe das Kind nicht mal mehr."
„Cye, wieso tust du uns nicht allen einen Gefallen und lässt los?"
„Aua", machte Cress flach.
„Du verlogenes Stück Dreck", knurrte Siva ihr ins Gesicht. Sie hatte die weißen Haare, die alle Bewohner der Narben trugen und sah damit alt aus, obwohl sie sogar jünger war als Cress. Die weißen Haare hatten ihnen allen den Namen eingebracht, mit dem sie die Bewohner der Hauptstadt bedachten: Geister.
„Was ist passiert?", fragte Cress, als sie einen vorsichtigen Schulterblick ihrer Rivalin bemerkte. Wahrscheinlich galt dieser etwa ihren eigenen Leuten, die sich nicht in die Seile hinaus trauten, sondern stattdessen entlang der Wände warteten.
„Lüg' mich nicht an."
„Du hast mir keine Frage gestellt."
Siva rammte Cress das Knie in den Magen. So fest, dass sie losgelassen hätte, wenn ihre Handschuhe sie nicht gehalten hätten.
„Ich habe keinen Schimmer, von was du sprichst", keuchte sie. Sie wusste es besser, als zurückzuschlagen. Was auch immer es war, das Siva so in Wallung versetzte – in diesem Zustand war es gut denkbar, dass sie auf alle Konsequenzen pfiff, die folgen würden, wenn sie den Joker der Clubs umbrachte, und es einfach tat.
„Owen", knurrte die Tochter der Herzdame. „Sie haben Owen erwischt."
Cress Herz setzte einen Schlag aus.
„Wer?"
„Na wer wohl", zischte Siva und ging auf Abstand, indem sie sich nach oben aus Cress Reichweite zog. Sie ließ es zu.
„Wer hat Owen erwischt?", rief Cress ihr nach. Von oben funkelten grüne Augen auf sie herab. Der Mann, von dem sie sprachen, war wahrscheinlich noch schwerer Dingfest zu machen, als sie beide. Was auch immer geschehen war, es würde Wellen schlagen. Vor allem, wenn man Cress dafür verantwortlich machte.
„Cyansoldaten", sagte Siva. „Der König hat ihn."
Sie starrten sich an, während zwischen ihnen Regenschnüre in den Abgrund tanzten. Cress war sich sicher, dass Siva weinte, obwohl sie nur Teile ihres Gesichts sehen konnte.
„Ich pfeif auf die Kinder, Elster. Sie haben ihn und sie werden ihn hinrichten."
Dann war sie fort und Cress war alleine im Netz. Ihre Arme zitterten vor Adrenalin. Siva hätte sie umbringen können, aber sie hatte es nicht getan. Zumindest nicht in der Form, in der sie zu atmen aufhörte. Sie beide kannten den Mann, von dem sie gesprochen hatte. Cress legte den Kopf in den Nacken. Sie hing auf Höhe der zwanzigsten Marke, in relativer Sicherheit abseits der Kämpfereien, die ausgebrochen waren. Nun fühlte sie sich wirklich, als würde sie fallen. Owen hatte sie ausgebildet, hatte sich um sie gesorgt während ihrer Zeit bei den Hearts. Es ergab Sinn, dass Siva auf der Suche nach einem Schuldigen zu Cress kam. Sie kannte viele Geheimnisse der Herzgilde, ihre Routen, ihre Wege in die Stadt zu schlüpfen, und dabei hatte sie die Gilde schon lange verlassen. Ein Verrat von ihr wäre denkbar. Doch sie hatte niemanden verraten. Wenn Siva also die Wahrheit sagte, tat sich ein noch größeres Rätsel auf: Wie war der Offizier der Herzdame den Soldaten in die Hände gefallen? Was war geschehen in der Herzgilde?
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Научная фантастикаIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...