4 - Narben, Hauptquartier der Clubs

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Jedes Mal, wenn sie an einer Lampe vorbeigingen, kniff der Fremde die Augen zusammen. Jedes Licht war ihm zu hell und seine Pupillen unnatürlich geweitet. Cress brachte ihn in das Besprechungszimmer des Kreuzbuben, wo er unruhig blinzelte, bis sie ein Tuch über die Lampe auf dem Schreibtisch warf. Sie setzte sich in den Ledersessel hinter dem Tisch und ließ ihn stehen. Der Boss würde sie ohrfeigen dafür, aber er war nicht da. Der Eremit sah zur Decke auf und nicht in ihre Augen, während er sprach. Er blieb am anderen Ende des Raumes stehen, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

„Vogel?", fragte er und deutete auf sie. Es war wohl nicht schwer zu erraten, dass sie der Schatten der Clubs war, auch wenn er einen anderen Namen benutzte. Cress war groß und verhältnismäßig alt für einen Schatten. Deswegen fürchtete man sie. Sie wusste nicht, wie alt sie genau war, aber sie war der älteste Joker, der noch in die Netze stieg.

Als sie nickte, schien der Fremde das nicht zu verstehen.

„Ihr seid schön", sagte er, der inzwischen zitterte, als würde jede Sekunde in diesem Umfeld ihn anstrengen. Cress blinzelte irritiert. 

„Was habt Ihr für eine Nachricht an meinen Patron?"

Fahrig zog der Mann etwas aus der Tasche. Er wackelte nach vorne an den Tisch, legte den Gegenstand darauf ab und entfernte sich wieder. Cress wurde erst bei seinem seltsamen Gang klar, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte vor Erschöpfung. Wie weit war er am Fels nach oben geklettert?

Er starrte immer noch zur Decke hinauf, während sie mit spitzen Fingern den schmutzigen Stoff beiseite schob, in den der längliche Gegenstand gewickelt war.

„Sie bewegen sich", sagte der Eremit. „Meine Hütte haben sie abgerissen und in die Tiefe geworfen."

Cress Augen wurden schmal.

„Ihr müsst töten, sonst werdet ihr sterben."

„Ich verstehe nicht."

„Sie sind auf dem Weg. In diesem Moment."

Mehr bekam sie nicht aus ihm heraus. Cress versuchte es mit Geduld und gutem Zureden, dann irgendwann schrie sie ihn an. Doch der Eremit sank nur in der Ecke zusammen und begann zu weinen. Sie rief die Heilkundige der Gilde und überließ ihn seinem Schicksal. Vielleicht hätte sie es als Wahnsinn abgetan, was er an unzusammenhängenden Informationen preisgegeben hatte, doch ihr Instinkt sagte ihr, dass es das nicht war. Seit Tagen litten sie unter dem Regen und jetzt holte sich ein Fremder Regenbrand, um eine kryptische Warnung zu überbringen. Was er mitgebracht hatte, war ein Rätsel in sich. Cress hatte erst nicht verstanden, was es war. Ein wenig sah es aus wie ein Dolch, doch die Form stimmte nicht. Der Eremit hatte ihr eine metallene Feder auf den Schreibtisch gelegt, die so lang war wie ihr Unterarm. Sie hielt sie in der Hand, während sie in den Schankraum zurückkam und einen der höher rangigen Clubs von seinem Kartenspiel wegzerrte.

„Mach zu", befahl sie Mike. „Kein Ausschank mehr."

„Elster?", fragte der alte Mann irritiert. Cress zog sich erneut auf den Tresen, dieses Mal stand sie darauf. Sie musste nicht um Ruhe brüllen, es hingen sofort alle Augen an ihr.

„Raus hier", befahl sie. „Niemand spielt hier Karten, bis die Nacht vorbei ist. Ich will jeden von euch auf einem Posten und wenn es zu eng wird da oben, dann sucht euch ein verdammtes Fenster."

Murmelnd wurde Unmut kundgetan. Viele hatten sich noch nicht an sie gewöhnt. An die mit den seltsamen Haaren, die zuvor so vielen anderen Patronen gedient hatte. Dass sie eine Frau war, tat sein Übriges.

„Was denkt ihr, was heute Nacht passiert? Freibier, weil Kieran mit Rekruten zurückkommt? Seid froh, wenn ihr den Morgen erlebt."

Das sorgte für Stille. Es war ungewöhnlich, dass der Schatten Befehle gab. Spätestens jetzt war allen klar, dass der Patron sich nicht im Hauptquartier befand.

„Wenn sie kommen, dann werft sie zurück in die Hölle. Könnt ihr das? Oscar, teil die Schichten ein. Ich werde nicht Schuld daran sein, dass hier nichts mehr steht, wenn der Boss zurückkommt, nur weil ihr zu dumm seid, um nach unten zu schauen. Bewegung."

Sie wartete nicht auf die Antwort, sondern sprang von der Theke und verschwand nach oben, die Hand immer noch um die Metallfeder geballt. Doch es geschah nichts. Die Nacht war ruhig und man lästerte frierend über die Überspanntheit des Schattens. Als die Sonne aufging, gab sie halbherzig Freibier aus, doch man ging nur kopfschüttelnd an ihr vorbei ins Bett. Cress besuchte den Eremit, doch die Heilerin schüttelte nur den Kopf. Er starb ein paar Stunden später. Kieran war immer noch nicht zurück, als Cress sich schlafen legte und der Regen hatte nicht nachgelassen. Auch der Patron war nach wie vor verschwunden. Cress starrte lange an die Decke ihres Quartiers, die Metallfeder auf ihrem Nachtkästchen. Sie schien nur Sekunden geschlafen zu haben, bevor eines von ihnen durch die Tür krachte und versuchte, sie umzubringen.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt