11 - Narben, Unbestimmter Ort

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Wenn ein Monster auftauchte, das schrecklicher war als alle anderen, gab es nur eine mögliche Reaktion der mächtigen Männer in den Narben. Anstatt ihre Wunden zu lecken, wollten sie das Ding als Trophäe über ihren jeweiligen Bars hängen haben. Cress hatte es sich schon gedacht, als sie den Blick gesehen hatte, mit dem der Kreuzbube das zerstörte Lokal betrachtet hatte. Er hatte gleich selbst noch einen Tisch zerschlagen und sie dann ausgeschickt, um ihm den Vogel zu jagen. Sie hatte sich schon ein paar Mal gefragt, auf welche Weise sie sterben würde. Sie würde der Antwort jetzt wohl sehr viel schneller näher kommen, als ihr lieb war. Jedes gute Zureden war am Herren der Clubs abgeprallt wie Regen und sie konnte es sich nicht leisten, auch in dieser Gilde in Ungnade zu fallen. Er hatte sie daran erinnert.

Jetzt jagten sie ein Monster, das nicht gefunden werden wollte. Cress sah hinunter zu den Männern, die der Kreuzbube ihr an die Hacken gehängt hatte. Am liebsten wäre ihr nur Kieran gewesen. Maximal fünf von den alten zähen Geistern, die nicht mit der Wimper zucken würden, wenn etwas aus dem Abgrund schoss und nach ihren Fußgelenken schnappte. Doch der Auftrag versprach etwas, das schwer zu bekommen war in den Narben: Glorie. Ohne Frage würden die anderen Gilden bald von dem Todesengel erfahren und ebenfalls auf die Jagd gehen. Wo diese Jagd hinführen würde, hatte Cress schon heute morgen im Hauptquartier prophezeit.

„Es kommt aus dem Abgrund. Die Netze helfen uns nichts. Wir müssen in die Tiefe."

Das hatte ihnen allen einen Dämpfer versetzt. Cress hatte kurz gehofft, dass ihr Patron zurückrudern würde. Er tat es nicht, denn er selbst würde bei Mike an der Bar bleiben. Die Hände des gefährlichsten Mannes der Gilde waren übersät mit den Brandblasen, die der Regen mit sich brachte. Er deutete mit diesen Händen in Richtung Tür und damit war es beschlossene Sache.

„Es hat die Diamonds gestern getroffen", erklärte Mike ihr noch, als er ihr Wasser abzapfte, „Hat das Hauptquartier mies zugerichtet. Man sagt, dass es dem Karobuben jetzt direkt in sein Büro regnet."

„Das bezweifle ich", murmelte Cress, „Das liegt unter der Erde."

Mike hielt sie am Arm zurück.

„Pass auf, ja?"

„Er schickt mich hinter dem Cyborg her", sie griff sich ihren Proviant von der Theke. „Du kannst schonmal anfangen, das neue Kind zu nerven statt mir, denn wie's aussieht braucht ihr bald einen frischen Schatten."

„Bist eh zu alt für den Job", rief ihr Malcom hinteher. „Schon fast zwanzig."

Sie hob die Hand und verabschiedete sich mit einer unmissverständlichen Geste.

Aufpassen würde ihr nicht viel helfen. Sie wünschte sich, sie hätte das Viech in Ruhe gelassen und nicht versucht, ihn mit der Metallfeder zu erstechen. Sie hatte sich umgehört nach dem Kampf und obwohl die Berichte weit auseinandergingen, denn manche behaupteten inzwischen felsenfest, das Wesen habe drei Köpfe gehabt und schwarzes Feuer gespien, war man sich in einem Punkt einig: die Kugeln, die die Geister selbst herstellten, richteten nichts aus gegen den ungebetenen Gast. Mit einem Dolch war nur Cress nah genug herangekommen und sie war sich nicht sicher, was sie damit ausgelöst hatte. Sie sah auf das Vogeltattoo an ihrem Handgelenk hinunter. Hatte der Untote es wirklich angesehen, oder hatte sie sich das eingebildet? Hatte es vielleicht Flügel erkannt, wie seine eigenen? Eigentlich unmöglich, so abstraktes Denken in diesen Monstern zu finden. Jetzt jagten sie es seit drei Tagen und hatten keine Flügelspitze gesehen.

Sie schliefen in engen Außenposten und versuchten, den Regen so gut zu meiden, wie möglich. Bis auf Cress hatten alle irgendwo Brandblasen inzwischen und die Stimmung wurde mit jeder von ihnen schlechter, während sie tiefer in die Schlucht hinunterstiegen. Das Licht veränderte sich und der Weg wurde immer beschwerlicher. Es gab keine Netze mehr hier, nur den Fels. Die Eremiten hatten Vorsprünge hineingemeißelt, aber in unregelmäßigem Abstand. Manchmal kletterten sie an der blanken überhängenden Wand hinunter und wussten nicht, ob sie Minuten oder Stunden unterwegs sein würden. Ob es überhaupt einen nächsten Punkt gab, an dem sie sich ausruhen konnten. Es dauerte keinen ganzen Tag, bis der Erste abstürzte. Cress hielt ihnen eine Standpauke über die Handschuhe und schickte dann alle zurück, die sie nicht brauchte oder nicht leiden konnte. Sie selbst kletterte am besten aus der ganzen Gruppe und stürzte beinahe in die Tiefe, weil sie auf dem nassen Fels den Halt verlor.

„Ich glaube ja, er wollte mich einfach loswerden", knurrte sie eines abends, an dem sie auf einem der überdachten Vorsprünge halt machten und im Feuerschein zusammensaßen. Ein Tiegel mit Salbe und eine Schnapsflasche machten die Runde. Jackson und Jo sangen ein altes Lied der Narben, das schaurig zwischen den Wänden widerhallte. Kieran hatte die erste Wache, aber Cress konnte ebenso wenig schlafen. Sie saßen zu zweit an der Abbruchkante und hingen ihren Gedanken nach.

„Denkst du, der Junge sind schon durch die Passage?"

Der Übergangsritus von Bürger zu Geist war schmerzhaft. Cress war froh, dass sie sich nicht daran erinnerte.

„Wahrscheinlich. Vielleicht wird er wirklich dein Schüler."

„Bitte nicht", ächzte Cress und Kieran klopfte ihr mitfühlend auf die Schulter.

„Immerhin hast du dann jemanden, dem du all deine schlauen Dinge erzählen kannst", witzelte er. „Nicht wie wir."

Cress schnaubte, kam aber nicht dazu zu antworten.

„Runter", Kieran riss sie mit sich zu Boden.

„Lass mich los", zischte Cress.

„Schau nach oben", flüsterte der Scout zurück. Auf der anderen Seite des Abgrunds, circa zwei Stockwerke über ihnen, huschten Lichter dahin. Sie verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Eine Shilouette schien sich von der Wand wegzulehnen. Auch der Mann verschwand wieder. Atemlos beobachteten sie, wie die Lichter ungefähr zehn Meter über ihnen wieder auftauchten. Sie bewegten sich mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit die Wand herunter.

„Konkurrenz."

„Das sind keine Geister", knurrte Kieran. Er hatte Recht, dafür war das Equipment zu gut. Wenn Cress so hätte absteigen können und nicht jeder Meter eine qualvolle Kletterpartie gewesen wäre, wären sie schon viel tiefer.

„Was machen die hier?"

„Vermutlich dasselbe wie wir", murmelte Kieran dessen große Hand auf Cress Schulter zitterte in Anbetracht der Anwesenheit der königlichen Armee, „Sie jagen den Cyborg. Was fliegen kann, kann auch bis zu den Brücken hinauffliegen."

Sie beobachteten, wie die Lichter in der Tiefe verschwanden.

„Wir drehen um, sobald wir wieder etwas sehen", beschloss Cress.

„Das will ich stark hoffen, Chefin."

Die anderen mochten noch schlafen, doch auch sie würden dieselbe Angst teilen, wenn sie aufwachten. Cress konnte nicht von ihnen erwarten, dass sie ihren gefährlichen Weg fortsetzten, wenn die Soldaten des Königs das gleiche Ziel hatten wie sie.

„Geh schlafen", flüsterte sie und stahl sich davon, sobald es möglich war.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt