Natürlich war es eskaliert. Es war wahrscheinlich allen klar, die wussten, dass Julian zurück war. Sie hatten in seiner Suite vorgeglüht, während sie auf René gewartet hatten. Alle zusammen waren sie dann weitergezogen zu Nicos Soldaten, die einmal Julians Soldaten gewesen waren und ihnen nach dem Schock seiner Rückkehr eine gebührende Feier bescherten. Sie hatten alles getrunken und geraucht, was ihnen in die Finger gekommen war, hatten Billard gespielt und sich zwischenzeitlich halb ernst gemeinte Gefechte mit den Keus geleistet. René war zwischen Julian und Nico gesessen und hatte gleichzeitig in Schokolade getauchte Datteln gegessen und sie abwechselnd auf die Lippen geküsst, anstatt ihre Shots zu trinken bei dem Spiel, das sie spielten. Als Will aufgetaucht war mit den Neuigkeiten, dass man einen geflügelten Cyborg gesichtet hatte, hatten sie eine dumme Wette abgeschlossen. Immerhin hatte René sie davon abgehalten vollkommen betrunken in die Narben zu fliegen. Dann hätten sie wahrscheinlich noch mehr Abreibung kassiert, als es jetzt der Fall gewesen war. Sie hatten sich Infusionen legen lassen und alle eine Stunde geschlafen, bevor sie aufgebrochen waren, um den Vogel zu jagen. Sie hatten ihn erwischt, aber es war nicht so ein Spaziergang gewesen, wie sie in ihrem euphorisierten Zustand gedacht hatten. Vor allem für Nico. Mit dröhnendem Schädel saß er nun in einer der Wachstationen über den Narben und ließ sich von einem blassen Militärarzt begutachten. Sein Gesicht schien in Flammen zu stehen. Schlimmer als der Schmerz war aber die Kränkung.
„Sie haben Glück gehabt, General", zog der Arzt Bilanz. „Das Auge wird wieder."
„Wie schnell?", fragte Nico.
„Ein paar Tage, General. Die Vergiftung haben wir gestoppt, aber die Schwellung muss erst ein wenig abheilen, bevor wir mit Plasma aushelfen können."
Nico nickte. Der Arzt verschwand nach draußen, wo ihm Oliver nahelegen würde, über den Vorfall zu schweigen. Julian trat in Nicos eingeschränktes Sichtfeld. Er trug nach wie vor militärische Ausrüstung, hatte nur die schwerere Panzerung abgelegt. Entschuldigt hatte er sich auch, obwohl es nicht seine Schuld war. Nico hatte genauso sehr rausgemusst, hatte genauso sehr Ablenkung gebraucht.
„Sieht verwegen aus, oder?", fragte er seinen Cousin, der nicht einmal eine sichtbare Schramme abbekommen hatte, obwohl ihn das Monster in den Abgrund geboxt hatte. Verflucht sei er.
„Was ist passiert?", fragte der Reisende, der im Beisein des Arztes kein Wort gesagt hatte.
„Die Ratte hat mich überrascht."
Julian runzelte die hohe Stirn. Sie hatten das Atheneum zusammen durchlaufen und wussten, wie tödlich ihr gegenüber im Nahkampf war. Nico war berüchtigt unter den Soldaten. Wenn man ihn bei den Trainingskämpfen abbekam, war es leichter, gleich aufzugeben. Das ließ Nico nur natürlich nie zu. Wenn man mit den allermeisten Adligen fertig wurde, dann war gegen einen Geist zu kämpfen, wie gegen einen Greis anzutreten. Ihre Knochen waren spröde vom Leben in den Narben. Sie brachen schnell und ohne großen Widerstand. Normalerweise.
„Mich hat ein Felsbrocken in den Nacken getroffen, der mich fast von diesem Dach geworfen hätte. Hat mein Visier kaputt gemacht."
Julian verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn er nicht auf das Dach gekommen wäre, hätte der Geist Nico wahrscheinlich die Kehle durchgeschnitten. Das sprach er allerdings nicht aus.
„Wie?", fragte Julian. Nico hatte vergessen, was für ein Format von General der Königssohn war. Keine Sekunde hatte er gezögert, als er Nico mit dem Geist gesehen hatte und er machte sich auch jetzt nicht darüber lustig, dass ein Verbannter ihm so zugesetzt hatte, wie es die anderen getan hatten auf dem Weg hierher. Stattdessen sah er die Inkonsistenzen in Nicos Bericht.
„Sie war so schnell, dass ich kaum reagieren konnte."
„Ein Geist mit besseren Reflexen als du?"
Er glaubte ihm nicht.
„Frag mich nicht, Juli, ich habe nur versucht, nicht herauszufinden, was am Boden der Schluchten noch alles lebt", stöhnte er und presste sich das Kühlpack, das der Arzt für ihn hiergelassen hatte, auf sein entstelltes Auge. Er versuchte, es herunterzuspielen, doch Julian schien zu merken, dass irgendetwas ihn verunsichert hatte. In den Narben passierten komische Dinge, das wussten sie alle.
„Soll ich jemanden schicken, der sie sucht, damit wir der Sache auf den Grund gehen?"
Nico lachte.
„Wenn sie deinen Schuss, den Cyborg und die Plasmarunden überlebt hat, dann hat das kleine Biest es verdient."
Erst, als Julian weg war, weil Nico sagte, er wolle sich kurz hinlegen, bevor sie in den Palast zurückflogen, ließ er das Kühlpack sinken und starrte ins Leere. Die Frau, die ihn fast umgebracht hätte, tauchte aus seiner Erinnerung auf. Er sah grübelnd durch eines der Fenster hinunter in die Netze, wo sie bis gerade unterwegs gewesen waren. Er musste es sich eingebildet haben. Es hatte ihm sofort ins Auge geregnet und der Schock hatte sein Übriges getan. Er hatte nicht einmal ihr Gesicht richtig gesehen, nur ihr Handgelenk, als sie ausholte, um ihn zu erstechen. Einen blauen Vogel hatte er dort gesehen, der knapp über der Klinge mit verstörender Präzision auf ihn zu kam. Nico versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken. Es war normal, dass das Gehirn in Todesangst seltsame Dinge tat. Er war es nicht gewohnt, so verletzt zu werden, wahrscheinlich war es einfach der Schock gewesen. Irgendwann kam Oliver mit zwei Tassen heißer Schokolade herein, die stark nach Rum roch.
„Dir ist klar, dass ich Schmerzmittel genommen habe?"
„Dann knallt es erst so richtig", lachte der junge Fürst und klopfte ihm auf die Schulter. Oliver Bernadotte stammte aus einer Familie, die ähnlich reich war wie das Königshaus. Er hatte die Akademie ebenfalls durchlaufen, aber war mehr Wissenschaftler als Soldat. Dass er mitgekommen war, war nur auf seine dauerhafte Hochstimmung zurückzuführen, seit Julian wieder zuhause war.
„Oli", setzte Nico an. „Hast du die Frau gesehen, die mich angegriffen hat?"
„Den Geist? Ganz kurz, bevor Julian ihn erschossen hat."
„Kam sie dir irgendwie bekannt vor?"
Oliver blinzelte irritiert.
„Der Geist?", fragte er noch einmal nach, als wäre er sicher, sich verhört zu haben.
Nico schüttelte den Kopf.
„Vergiss es. Sie war nur sehr schnell und ziemlich tief unten in der Schlucht. Ich dachte, vielleicht ist sie eine der Prominenteren in der Hölle da unten."
„Kein guter Verlierer, was?"
Nico antwortete nicht. Besser, sie dachten alle, es war nur sein gekränkter Stolz. Oliver zuckte gleichmütig die Schultern
„Vielleicht waren sie auch auf der Jagd nach dem Tier. Hauptsache du wirst wieder."
Nico nippte an seiner Schokolade. Sie schmeckte göttlich nach der kurzen Nacht und der Dunkelheit der Narben.
„Ich vergesse immer, dass da unten eine ganze Welt existiert", murmelte er und sah wieder hinunter. „Sie ist so klein und unbedeutend, aber sie hat ihre eigenen Regeln."
„Vielleicht hat die Herzdame persönlich dich angegriffen."
Oliver hatte es als Scherz gemeint, doch Nico nickte geistesabwesend.
„Das habe ich mir auch schon gedacht. Etwas anderes kann ich mir kaum vorstellen."
Konnte er schon, aber er weigerte sich strikt zuzulassen, dass seine Gedanken in diese Richtung streiften. Also trank er nur weiter seine Schokolade und wartete, bis das Schmerzmittel endlich sein Gesicht vollständig betäubte.
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Science FictionIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...