Der Kronrpinz erwartete sie im Atheneum, dem Ort, an dem ihr Bruder beinahe gestorben wäre. In der Eingangshalle war es um mehrere Grad kühler als draußen. Maya ging vorbei an Ölgemälden von Feldherren. Die meisten zeigten Szenen aus dem Krieg, der den Großteil der menschlichen Zivilisationen ausradiert hatte. Einige waren neuer, kein einziges älter. Einer der Gründe, wieso sie obsessiv Erinnerungen horteten, war, dass viele verloren gegangen waren. Die Menschheit wusste nicht mehr so viel über sich selbst, wie sie es vor der Zerstörung getan hatte.
Ein Soldat in ziviler Kleidung führte sie in den zweiten Stock des Barocken Baus und ließ sie in einem Salon voller alter Bücher alleine. Maya wartete beim Ticken einer großen Standuhr darauf, dass er eintrat. Es war, wie auf eine Ohrfeige zu warten. Und die Ohrfeige kam schwungvoll.
„Entschuldigt meine Verspätung, die Minister haben mich aufgehalten", grüßte Julian Alessandrini, als wäre sie ein offizieller Termin in seinem Kalender.
„Konntet Ihr besorgen, worum ich Euch gebeten habe?"
Er streckte die Hand aus. Maya griff in ihre Tasche und legte den Kristall hinein.
„Ich danke Euch, Protektorin", nickte er geschäftsmäßig und hatte sich schon halb umgedreht, als sie sich räusperte. Er hielt inne und wartete, dass sie etwas sagte.
„Der Stein ist gesplittert", murmelte sie. „Ich kann mir nicht erklären, wie das geschehen ist."
„Nun, er liegt wohl schon einige Jahre im großen Gedächtnis, nicht wahr? Das ist es doch, was der Orden will, eine große Erinnerung an die Vergangenheit?"
Er sah nicht nach, ob sie ihm wirklich einen Stein gegeben hatte, oder ob es etwas vollkommen wertloses war. So sicher war er sich, dass er sie kontrollieren konnte. Es war besorgniserregend, dass er Recht hatte.
„Ihr solltet Euch die Vorlesung zu Ende anhören, die im großen Hörsaal stattfindet", empfahl er. „Erstens ist sie interessant und zweitens habt Ihr dann einen Grund für Eure Anwesenheit. Einen schönen Tag, Protektorin."
„Wartet."
Er hatte die Hand schon auf der Türklinke, wandte sich aber noch einmal zu ihr um.
„Heilige Steine splittern nicht", sagte sie unsicher. „Nie. Die Hohe allein kann sie formen."
Nun nahm er den Kristall doch aus der Tasche und faltete den Stoff in seiner Hand auseinander. Ein Stück Himmel in den Händen des Königssohns zu sehen, bereitete ihr Übelkeit. Sie hatte das Bedürfnis, es ihm aus der Hand zu reißen und eifersüchtig zu verstecken, dabei berührte er den Kristall nicht einmal, sondern hielt ihn in dem Stoff.
„Er ist gebrochen", sagte er dann. Damit hatte Maya nicht gerechnet. Sie überwand ihren Respekt und trat näher.
„So eine scharfe Kante könnte eine Abbruchkante sein."
„Bei allem Respekt, diese Steine brechen nicht, Eure Hoheit."
„Dann beschließt Eure Herrin von Zeit zu Zeit, einen asymmetrischen Totenstein zu formen?"
Maya sah ihn an. Auf keinen Fall würde die Hohepriesterin das tun. Sie legte einen großen Perfektionismus zu Tage, wenn es um die Kristalle ging, auch wenn es die für die Geister waren. Kein fehlerhafter Kristall würde seinen Weg ins große Gedächtnis finden und es gab keine fehlerhaften Kristalle unter der Aufsicht der Hohen. Julian Alessandrini wickelte den Stoff wieder um den Kristall und ließ ihn in seiner Tasche verschwinden, als enthielte der Stein nicht das gesamte Leben eines Menschen.
„Wie wäre es, meine Liebe, wenn Ihr die andere Hälfte findet", sagte er. Keine Drohung, kein weiterer Machtbeweis. Nur eine Anweisung, von der er wusste, dass ihr Folge geleistet werden würde, weil das immer der Fall war.
„Wenn der Stein gebrochen ist, dann ist das nicht nur eine Angelegenheit in meinem Interesse, nicht wahr?", fragte er, zwinkerte ihr zu und verschwand.
Sie kehrte zurück in das Heiligtum, aber nicht in ihr Zimmer, seine Worte wie eine dunkle Wolke in ihrem Kopf. Es gab viele Bibliotheken in der Hauptstadt. Die des Ordens, die Mayas Ziel war, zählte zu den Prächtigsten. Maya hatte einen festen Platz oben im Erker, der auf den Park hinausging. Doch dort setzte sie sich fast nie hin, weil alle genau wussten, wo ihr Platz war. Stattdessen ging sie in das oberste Stockwerk und suchte unter der bemalten Kuppel die Wendeltreppe zur Galerie. Die Bücher dort waren unter Verschluss für die meisten Mitglieder des Ordens. Nicht für die Protektorin.
„Was bringt einen heiligen Stein zum Brechen, liebes Buch?", fragte sie gedankenverloren. „Was ist das für eine Erinnerung?"
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Science FictionIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...