31 - Türme, Große Bibliothek

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Maya verbrachte so viel Zeit sie konnte in der Bibliothek. Wie damals, als sie auf das Examen der Hohen gelernt und zwischen den anderen Kandidatinnen Blut und Wasser geschwitzt hatte. Der Orden sah sie immer gerne in der Bibliothek, wahrscheinlich weil sie dachten, sie würde sich auf die Regeln der Ahnen besinnen. Oder es war der Prinz, der bereist Stränge zog, um ihren Ruf wieder aufzubauen. Bei dem Gedanken hätte sie beinahe laut aufgelacht. Mayas Nacken schmerzte von den Stunden, die sie über den Schriften des Ordens verbracht hatte. Sie setzte alles ein, was sie hatte und durchforstete Bücherstapel um Bücherstapel. Es brachte nichts. Sie fand nichts darüber, wie oder wieso Erinnerungssteine brechen konnten. Nur die Hohe konnte mit Hilfe der Flamme Caz Kristall schaffen, ihn zu zerstören war unmöglich. Oder war es zumindest gewesen. Maya wusste, dass irgendetwas nicht stimmte mit der Erinnerung, die sie für den Kronprinz gestohlen hatte. Jemand hatte offensichtlich versucht, sie zu vernichten. Das war ein Verbrechen, das der Orden mit dem Tod bestrafte, obwohl es noch nicht einmal geschehen war, dass es funktionierte. Es ging dabei mehr um Symbolismus. Darum, die Erinnerungen zu respektieren. Nicht um den Erhalt der Steine, die härter waren als Diamant. Während sie die Hohe begleitete, während sie mit ihrem Bruder und ihrer Mutter aß, während sie ausritt, während sie die Flamme trug und Andacht hielt, schweiften Mayas Gedanken. Alles schien im Schatten des Geheimnisses zu stehen, das sie in den Tiefen des großen Gedächtnisses gefunden hatte.

Dass sie wirklich betrübt wirkte, wurde ihr klar, als Aday begann, sich um sie zu sorgen. Er hatte ihr Süßigkeiten mitgebracht, weil er in der Stadt gewesen war. Kleine Pralinen und funkelnde Zuckerblumen, die er ihr in die Bibliothek schmuggelte.

„Du arbeitest zu viel", sagte er, als sie draußen im Innenhof nebeneinanderstanden. „Selbst für deine Verhältnisse."

Maya sah ihn entgeistert an.

„Mach etwas langsamer", riet ihr Bruder. „Der Orden entspannt sich ohnehin wieder. Sie haben nicht vergessen, was du schon geleistet hattest, bevor du den Fehler gemacht hast."

Er streckte die Hand aus und tätschelte ihr den Kopf.

„Geht es dir gut?", fragte Maya. „Wieso bist du so versöhnlich gestimmt?"

Aday war sehr gut gelaunt. Schon fast beunruhigend gut gelaunt. Dann setzte er dem ganzen die Krone auf, indem er sagte:

„Ich bin stolz auf dich."

Maya blieb mit offenem Mund stehen, während Aday ihr zuzwinkerte und nach drinnen ging, um nicht zu spät zu seiner Trainingseinheit mit den Drillingen im Atheneum zu kommen. Sie stand in einem der Säulengänge und sah zu der Laureline Statue in der Mitte des Innenhofs. Eine große Frau in wallenden Gewändern, das Gesicht zum Himmel erhoben. Sie lief durch kunstfertig aus Marmor geschlagenes Feuer. Maya setzte sich und versuchte nachzudenken. Ich bin stolz auf dich. Das klang nicht nach ihrem Bruder, das klang nach ihrem Vater. Der Schmerz kam plötzlich, obwohl sie ihn so gut kannte inzwischen. Er fuhr ihr einmal in die Knochen und sammelte sich dann in ihrem Hinterkopf. Wusste der Kronprinz, welche Waffe er über ihr Haupt hielt? Maya konnte es sich vorstellen. Das schlimme seit ihrem Handel mit Julian Alessandrini war, dass sie seitdem überall seinen Einfluss erwartete. Maya war so wachsam aus Angst die Hilfestellung nicht zu erkennen, die er ihr angeblich geben wollte, dass sie sich sogar in diesem Moment fragte, ob es nicht der Reisende gewesen war, der ihren Bruder beiseite genommen und ihm die lieben Worte eingeflüstert hatte. Sie kehrte zurück zum Lesetisch und klappte endgültig das Buch zu, das sie nach Anhaltspunkten durchsucht hatte. Wenn sie wissen wollte, was einen heiligen Stein zerbrach, dann gab es nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Maya hatte alles getan, um dieser Tatsache nicht ins Auge blicken zu müssen. Sie sah durch die hohen Fenster der Bibliothek hinaus zum Turm der Hohen. Sie würde mit Rya sprechen müssen, wenn sie Antworten wollte. Das bedeutete aber auch, dass sie, falls die Hohe ihr genug vertraute, um zu antworten, den Orden an den Kronprinzen verraten würde. Bei dem Gedanken wurde ihr schwindelig und sie musste sich wieder setzen. Vielleicht würde ein einziges weiteres Buch doch nichts schaden? Vielleicht machte es keinen Unterschied mehr. Es war kein einziger Fall bekannt, dass jemand aus dem großen Gedächtnis gestohlen hatte und mit dem Leben davongekommen war. Sie hatte es nachgeschlagen, nachdem sie das erste Mal den Plan geschmiedet hatte, hinunterzusteigen. Sie hatte es zweimal getan. Einmal für sich und einmal für Julian Alessandrini. Doch als Maya auf ihre zitternden Finger hinabsah, dachte sie, dass es eigentlich auch das zweite Mal um sie selbst ging. Denn wenn sie nicht so gnadenlose Angst davor hätte, dass der Prinz sie an die Hohe verriet, dann hätte sie es nicht getan.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt