Sie warteten auf einen Tag, an dem die Witterung außerhalb der Kuppel freundlich genug war. Bei Regen wäre ihr Unterfangen zehnmal schwieriger geworden. Da innerhalb der Kuppel nur wieder freundlich die Sonne schien, war Cress gezwungen darauf zu warten, dass irgendjemand ihr mitteilte, ob sie heute die wahnsinnigste Tour ihres Lebens klettern würde.
In der Zwischenzeit war viel geschehen. Sie hatte mit mehreren Mitgliedern von Julians innerem Zirkel eine Route abgesteckt, die sie möglichst ohne Komplikationen in die Nähe des Baus bringen sollte. Wobei ‚ohne Komplikationen' relativ war. Die Adligen hatten keine Ahnung von den ungeschriebenen Gesetzen, die in den Schluchten regierten. Sie kannten zwar die Hauptquartiere, aber nicht die Schleichwege, Außenposten und Patrouillerhythmen der Gilden. Cress hätte über jedes der Themen einen eigenen Bericht abliefern können. Sie fragte sich mit jedem Informationsschnipsel, den sie in die Strategie für den Abstieg einflocht, ob ihnen klar gewesen war, wie gut geeignet sie für diese Sache war. Jemand, der alle Gilden gesehen hatte, ohne Mitglied in einer von ihnen zu sein. Sie fügte sich perfekt ein in den wahnwitzigen Plan des jungen Adels, der in einer Geschwindigkeit Form angenommen hatte, die Cress nicht für möglich gehalten hatte.
„Heute", sagte Finja Arete eines morgens zu ihr. „Frühstückt gut."
Das tat Cress. Sie rannte ihre übliche Strecke, dehnte ihre beanspruchten Muskeln und duschte. Dann setzte sie sich in die Eingangshalle und versuchte zu lesen, doch ihre Augen huschten immer wieder zur Tür hinüber. Der Morgen kam und ging, ebenso der nachmittag. Erst, als die Sonne unterging, landete ein Schiff.
Cress sah van Garde in schwarzer Funktionskleidung unten am Wasser bei den Booten. Jedes Mal, wenn er in ihr Blickfeld trat, presste sie die Zunge gegen ihren Backenzahn, der gesplittert war, als er sie k.o. geschlagen hatte. Es gab nur noch eine Leerstelle in dem Plan, den sie geschmiedet hatten in den letzten Tagen. Die Frage, wer zu ihrer Unterstützung mit absteigen würde. Momentan war van Garde ihre beste Vermutung. Er hatte sie einer Feuerprobe unterzogen und der Alessandrini Erbe vertraute ihm. Sie konnte sich keinen anderen Grund denken, wieso man ihr bisher nicht gesagt hatte, wer mit ihr in die Narben geschickt wurde.
Dass etwas im Gange war, erkannte man an den Menschen, die sich in der Eingangshalle sammelten. Soldaten, jung bis mittelalt. Cress hatte noch nie so vielen von ihnen ins Gesicht gesehen. Man vergaß, dass Menschen hinter den Visieren steckten, die von Zeit zu Zeit in der Tiefe erschienen und nichts als Schrecken verbreiteten. Sie beobachtete von der Galerie aus, wie Menschen das Kommando übernahmen, die nicht van Garde oder der Prinz waren. Finja Arete war nirgends zu sehen, aber van Garde zeigte sich nach einer Weile. Nicht unten in der Halle, sondern neben ihr am Geländer der Galerie, auf die sie sich zurückgezogen hatte.
„Du solltest doch wegbleiben, bis das hier erledigt ist", schnurrte er.
„Wie groß ist diese Sache? Ihr habt Andeutungen gemacht, aber wie viele Leute arbeiten daran heute Nacht?"
Er beantwortete ihr die Frage nicht, während eine Gruppe Menschen bereits wieder das Herrenhaus verließ.
„Habt Ihr nicht das Bedürfnis, Euch gutzustellen mit mir, damit ich Euch nicht versenke später?", fragte sie genervt. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was sie meinte.
„Oh, ich steige nicht mit Euch ab, den Sternen sei dank."
„Welchen Soldaten bekomme ich dann als Nummer zwei?", fragte Cress. „Nicht den von letztem Mal, nehme ich an."
„Nun ja, ich gehe davon aus, dass es jemand sein wird, mit dem Ihr Euch noch besser versteht als wir beide es tun. Wobei – ist das denn möglich?"
Cress öffnete den Mund, um zu antworten, doch die Gespräche in der Halle verstummten plötzlich. Julian war gekommen. Zusammen mit zwei anderen Männern, die mit ihren schönen Gesichtern und gekämmten Haaren aus der Menge der Soldaten herausstachen.
„Herrschaften", begann Julian schon, während er noch auf dem Weg durch den Raum war. „Wir sind aktuell eine halbe Stunde im Verzug. Keine weiteren Verzögerungen. Mallory, mit dem Schiff hat sich ein Problem ergeben, deshalb fliegt ihr eine andere Fregatte."
Die Soldaten erhielten nacheinander ihre Befehle und verschwanden. Cress hatte den Eindruck, dass es bei Weitem nicht alle waren, die auf die ein oder andere Weise involviert waren. Es wäre zu riskant, sie alle hier zu sammeln. Am nachmittag war die Halle von einem Haufen am ganzen Körper bemalter Tänzerinnen gewesen, denen von einer Cress unbekannten Dame Anweisungen erteilt worden waren.
„Das ist mein Stichwort", verabschiedete sich van Garde. „Enttäuscht mich nicht."
Sie beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und marschierte geradewegs hinunter in die Halle. Julians Männer wurden unruhig, als sie Cress sahen und noch angespannter, als sie dem Prinzen die gleiche Frage stellte wie van Garde.
„Mit wem steige ich ab?"
Vielleicht hatten die übrigen Soldaten Angst, dass ihnen Julian wie Nico auf die Schulter klopfte und sie dieses Mal nicht spontan gen Himmel schickte, sondern mit Cress in die Narben warf.
„Ich dachte, man sollte sich vorstellen, bevor man zusammen ...", ihr Stimme schweifte ab. Er hatte etwas an sich, das alles was Licht und Schall war einzusaugen. Dabei tat er gar nicht viel im Moment. Julian wandte sich voll zu ihr um. Er überragte Cress so sehr, dass er den Kopf neigen musste, um auf sie herunterzublicken und den schicksalsschweren Satz zu sagen:
„Ich begleite Euch."
Cress ließ den Gurt sinken. Sie hatte gedacht, nachdem van Garde sie so malträtiert hatte, wäre sie nicht mehr zu überraschen. Der Alessandrini Erbe hatte den Ruf, wagemutig zu sein, aber damit hatte sie nicht gerechnet. Schließlich war er um den Globus geflogen, quer durch das verbrannte Land. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die die Neuigkeiten umhauten. Die Versammelten beobachteten sie missbilligend.
„Ich bin nicht so wahnsinnig Euch mit Nico zusammen nach unten zu schicken."
„Ich habe keine Ahnung von Politik", sagte sie, während sie Julian zur Tür folgte. „Aber ist es nicht ein ziemlich dämlicher Move, sich als Kronprinz in Lebensgefahr zu begeben?"
„Habt Ihr mich gerade beleidigt?"
Sie machte den Mund zu, weil van Garde hinter Julians Rücken eindringlich signalisierte, sie solle aufhören mit was auch immer sie tat. Weil es van Garde war, hatte es noch mehr Gewicht. Wenn er sich darum scherte, sie zu beschützen, nahm sie das ernst. Julian hob die Hand, um seinen Cousin zu verdecken, ohne sich nach ihm umzusehen. Er wusste genau, wo er stand und was er tat, als hätte er Augen im Hinterkopf. Sie musste ihm wieder ins Gesicht sehen.
„Macht euch bereit und wärmt euch auf", sagte er. „Wir fliegen in einer Stunde."
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Ficțiune științifico-fantasticăIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...