Tiefer würden sie die Treppen nutzen können, aber hier oben hätte man sie sofort gesehen. Zähneknirschend musste sie feststellen, dass er nicht gelogen hatte. Die Netze hielten ihn aus.
Sie wechselten die Seite, um zum oberen Ende eines Stiegs zu kommen, den auch die wagemutigsten Schatten nicht nutzten, weil er zu nah an den Brücken war. Heute war es genau das, was sie brauchten. Julian Alessandrini hielt mühelos mit ihr Schritt. Sie hatte eher das Gefühl, dass sie ihn bremste, obwohl er den Großteil der Ausrüstung trug. Cress war es nicht gewohnt, mit jemand anderem hier zu sein. Sie erreichten das erste Stück, das sie frei klettern mussten und hingen möglichst Kraftschonend in den Seilen darüber, während sie die Sicherungen auspackten. Cress stieg vor in den Bereich, den die Geister „Todeszone" nannten, wegen der Nähe zu den Brücken. Sie schwiegen während des weiteren Abstiegs. Es blieb Ihnen nichts anderes übrig und es war eine Erleichterung. Man brauchte volle Konzentration. Cress fand ihren Weg an einer Felswand entlang, die tückischer war, als die Netze. Einer der Gründe, wieso sie vorstieg, war, dass der Prinz es gewohnt war, Strecken erst hinauf und dann hinab zu steigen. Diesen Luxus hatten sie nicht. Sie kannten die Griffe nicht, sie mussten die Strecke in dem Moment erschließen, in dem sie schon dort hingen. Sie schafften es bis zu den Treppen auf Höhe der fünften Marke und flogen die trügerischen Stufen hinunter. Sie waren glatt und feucht vom letzten Regen. Außerdem war die Position sehr verwundbar – aus den Netzen könnte man auf sie schießen, auch wenn die Brücken knapp außer Reichweite waren. Mit jedem Schritt wurde es dunkler. Cress konnte nur hoffen, dass die Späher der Gilden an ihren üblichen Posten saßen. Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. Normalerweise würde sie das, was sie bisher abgestiegen waren, als überdurchschnittliches Tageswerk betrachten, ins Hauptquartier zurückkehren und sich stärken. Heute war es erst der Beginn.
„Braucht Ihr eine Pause?", fragte er süffisant an der Zehnten Marke. Sie war stehen geblieben und in die Hocke gegangen, um etwas auf der Treppe zu betrachten. Sie hob etwas auf, das dort lag. Es war eine Feder, nur etwa so groß wie ihr Daumen. Sie war aus Metall, wie die des Cyborgs. Julian war die Stufen zurückgekommen. Er wirkte plötzlich besorgt. Sie hatten beide die Bekanntschaft des geflügelten Monsters gemacht und nur knapp überlebt. Cress hatte sich nicht gefragt, ob es noch weitere gab. Sie strich über das scharfkantige Metall und dachte an die Sekunden, die sie am Himmel gehangen hatte, bevor sie gefallen war.
„Sie kann in die Schlucht gefallen sein, als er abgestürzt ist."
Cress dachte an die sauberen Flügel, die vor dem Arete Herrenhaus lagen.
„Oder nicht."
„Angst?", fragte der Kronprinz. Es lag keine Häme darin, aber ein Unterton, der ihr nicht gefiel. Er wirkte deutlich energetischer als in der Villa. Cress fragte sich, ob es ihn glücklich machen würde, wenn sie von Cyborgs umzingelt würden und sich den Weg freikämpfen müssten. Er war mit seinen Freunden in die Narben hinuntergestiegen, bis unter das Gebiet der Eremiten, aus Spaß. Aus Lust an der Jagd nach dem Unbekannten. Etwas lauerte unter der antrainierten Ruhe. Cress dämmerte, dass es der wahre Grund sein könnte, wieso er hier war und nicht auf den Brücken geblieben war.
„Wer weiß, was Elysion noch für Schatten hat?", fragte er und klang dabei, als würde er sie sich gerne alle über seinen Kamin hängen. Er würde sie beide umbringen, wenn nicht absichtlich, dann aus purer Selbstüberschätzung.
„Ich bin ein einziges Mal zu tief hinuntergestiegen", sie hielt ihn am Arm zurück, so ernst war es ihr. „Seht, wo es mich hingebracht hat."
Er warf ihrer Hand einen Blick zu und sie nahm sie sofort weg.
„Erinnert mich daran, dass ich Euch eine Geschichte erzähle, wenn wir rasten."
„Wir rasten?", fragte sie ironisch.
DU LIEST GERADE
Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Science FictionIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...