43 - Über den Narben, Fünfte Brücke

51 13 0
                                    

„Das schaffst du nicht mehr rechtzeitig."

Er bewegte sich trotzdem. Der rote Punkt stieg in Richtung des Komplexes ab. Dann hielt er inne. Finja starrte voll Horror darauf, wie der blaue Punkt eine der Linien überschritt. Es war keine Mauer, es war eine Öffnung. Eines der Tore ins Nichts.

„Sie ist gefallen", flüsterte Will, während Cress Markierung blinkte und erlosch. „Juli, was siehst du? Juli?"

Keine Antwort. Der rote Punkt bewegte sich. Er hatte den Komplex erreicht. Finja war einen Moment wie eingefroren, dann traf sie Nicos Blick, der wohl zum gleichen Schluss gekommen war wie sie selbst. Der Geist war in die Narben gefallen.

„Juli, komm zum Treffpunkt nach oben", sagte Will ins Mikro. „Abbruch, sofort."

Nico löste sich von der Wand, sprintete durch den Raum in Richtung Schiff. Er würde viel zu früh am Treffpunkt sein, wenn er jetzt losflog.

„Er wird nicht kommen", sagte Finja, als nur das Rauschen des Mikros antwortete. Will drehte sich zu ihr um. Er hatte noch nicht begriffen, was passierte. Wie sollte er auch, er kannte den entscheidenden Faktor nicht. William Belcane hatte mit Julian gedient. Er kannte ihn als disziplinierten, immer vernünftigen Anführer. Er konnte nicht anders, als davon auszugehen, dass es auch heute so sein würde.

„Wir hätten das nie zulassen dürfen", flüsterte Finja, bevor sie einen letzten Versuch machte: „Julian? Julian, du musst weg von den Felsen. Die Schlucht läuft schmal zu, du hast hundert Meter, die dich aufspießen können."

„Was ..."

„Abdocken", bellte Nico über Funk. Sie sahen, wie die blauen Lichter der Triebwerke unter ihnen verschwanden. In die Tiefe der Narben, wo absolutes Flugverbot herrschte.

„Wir holen sie nicht!", Will sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. „Haltet euch an den Plan!"

„Finja", kam es von Julian und sie verstummten beide.

„Nico, es tut mir leid."

„Mach keinen Scheiß, ich bin auf dem Weg", kam es von van Garde, der wahrscheinlich gerade mit wahnwitziger Geschwindigkeit in die Schlucht hinunter brach.

Sie glaubte, nicht mehr atmen zu können.

„Finja, es tut mir leid."

Es klang wie ein Gebet, während er ihre Namen durchging. Will erstarrte, als er seinen eigenen hörte.

„Sag René es tut mir leid."

Sie hatten Julian geschworen, es nicht zu verraten, bis es vorbei war. Doch der Kronprinz von Elysion war kurz davor etwas unwahrscheinlich Dummes zu tun. Es war zu Ende. Finja hatte keine Zeit zu verlieren. René hätte es wahrscheinlich besser gekonnt, aber sie war am anderen Ende der Stadt und trug ihren Teil dazu bei, dass niemand sein Augenmerk auf die Brücken richtete. Finja kannte nur einen Weg, den, den ihre Familie in den Gerichtsverhandlungen nahm: quer hindurch. Sie nahm Will am Oberarm und spürte die Kälte der Rüstung, die er trug.

„Er wird springen."

Alle Farbe floh aus dem Gesicht ihres Freunds.

Verständnislos schüttelte der Blonde den Kopf. Niemand kannte Julian so ruchlos, so verloren und voller Missachtung für das eigene Wohlergehen. Bis auf den Tag, an dem er in die Kolonien geflogen war und sein Exil angetreten hatte. Der Tag, der bis heute seinen Schatten hinter sich herzog. Sie heimsuchte.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt