46 - Narben, Tiefe

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Als sie sie fanden, hatten die Cyborgs sie eingekesselt.

Nico war geflogen, wie der Teufel selbst. Er hatte den Piloten aus dem Schiff geworfen, die schlanke Karavelle übernommen und war im Sturzflug in die Narben geschossen. Hinunter, immer weiter, während seine Soldaten schrien wie Kinder. So tief, bis die Flügel beinahe Funken schlugen an den Felsen, weil die Wände sich so nahekamen. Er hätte beinahe das rechte Triebwerk verloren, obwohl er wohl der einzige Mensch in der Hauptstadt war, der diesen Flug lebendig überstehen konnte. Er hatte das Kommando seinem Offizier überlassen und sich mit Finja und Oliver in voller Rüstung abgeseilt. Sie suchten länger, als Nico lieb war. Bis er die Schüsse aus einer Plasmawaffe roch. Die Cyborgs gerade offensichtlich dabei waren, den Kronprinz umzubringen und dieser war unerklärlicherweise noch lebendig genug war, um das nicht kampflos zuzulassen.

Finja ließ ihren Anzug aufstrahlen und weißes Licht rauschte durch die Felsspalte, während sie senkrecht die Wand hinunterrannten und dann an den Seilen hinabglitten. Sie brachen über die Monster herein wie rachelüsterne Engel über Dämonen. Es wäre ein Blutbad gewesen, wenn die Wesen geblutet hätten. Alles, was sie an Blut sahen, konnte nur von zwei Menschen kommen. Inmitten des Chaos fanden sie sie. Julian lebte. Gerade noch. In seinen Armen hing schlaf die Gestalt einer Frau. Er hatte seinen Geist tatsächlich gefunden. Sie hingen zusammen im blutbeschmierten Fels, sodass man bei den identischen Anzügen und dem Blut nicht klar erkennen konnte, wo sie aufhörte und er begann. Nico wusste, während sie sie nach oben trugen, dass er niemals vergessen würde, was er heute gesehen hatte. Sein Cousin, blutend am Boden der Narben, den Ausdruck auf seinem Gesicht, das so unantastbar war an jedem anderen Ort. Totale Erschütterung. Der Flug zurück war ein Rausch. Wieder flog Nico, aber die Welt um ihn her war verrauscht und unwirklich. Er raste senkrecht in die Höhe, bis sie die Netze erreichten. Sie waren hindurch gebrochen, wie es der Cyborg getan hatte, nur hatten sie deutlich mehr Schaden angerichtet. Nico hörte, wie sie hinter ihm herumwuselten. Wie Finja sprach und wieder verstummte. Der Feldarzt der Brücke, den sie wohlweislich von Anfang an in das Schiff gesetzt hatten, war maßlos überfordert. Er hatte mit vielem gerechnet, als der junge Adel ihn einzog, aber sicher nicht damit, zum Grund der Narben zu fliegen und das Leben des Kronprinzen und der Frau, für die er dort hinuntergesprungen war, in den Händen zu halten.

Stundenlang saßen sie auf der Brücke und warteten, während man versuchte, Julian und Cress am Leben zu halten. Nico hatte erlebt, wie Will nach einem Gemetzel Witze riss und Finja war grundsätzlich kaltblütig genug, um auf Beerdigungen laut zu lachen. Heute hatte keiner von ihnen Worte mehr.

„Ihr wusstet es."

Will hatte geweint. Er war nicht schnell genug gewesen, um mit ihnen hinunterzufliegen, weil er vor Schock zusammengeklappt war. Er war der einzige unter ihnen gewesen, der nicht eingeweiht war. Der sich nicht des Verrats schuldig gemacht hatte.

„Er hat uns angewiesen, zu schweigen."

„Und seht, was es uns gebracht hat", schrie Will. „Seht euch an, was ihr getan habt! Was er getan hat!"

Will rammte eine Faust gegen die Mauer der Brücke. Er war niemand, der leicht die Fassung verlor. William Belcane hatte Summa cum Laude das Atheneum verlassen und jeden psychologischen Test des Dekans ertragen. Nico fragte sich, ob er ihn je schon einmal so gesehen hatte.

„Wir wissen nicht einmal, ob er leben wird."

„Er hat den Fall überlebt", hörte Nico sich in fehlgeleitetem Optimismus sagen. Er fühlte sich, als würde er von außen auf die Szene schauen. Unbeteiligt und fern von dem Horror, der den Raum in seinen Bann gezogen hatte. Auch als Will auf ihn losging, schnalzte er nicht zurück in seinen Körper. Er wollte ihm weh tun und Nico dachte sich für einen kurzen Moment, es wäre gut, etwas anderes zu fühlen. Will warf ihn gegen die Wand des kahlen Raums. Es war kein Trainingskampf, wie sie sie schon unzählige Male miteinander geführt hatten. Will wollte Blut sehen. Nico wollte Schmerzen. Sie prügelten aufeinander ein. Will riss einen Beistelltisch um, indem er Nico hinein schleuderte. Der Wasserkrug, den man ihnen hingestellt hatte, zerbarst auf dem Boden. Eiswürfel und Limettenscheiben schlitterten über den Boden. Das Adrenalin des Kampfs war nichts im Vergleich zu dem des Flugs, aber es betäubte die Gedanken etwas. Nico hatte sich die Wange an einer der Scherben aufgeschnitten, aber er war schnell wieder auf den Beinen. Eis und Glas brachen unter seinen Schuhen und er sah Will mit einem winzigen Lächeln an, das ihn wenige Sekunden später durch den Raum fliegen ließ. Will war stärker als Nico. Aber dass er ihn werfen konnte, war Nico nicht klar gewesen. Einen Moment lang bekam Nico etwas wie Angst. Sei Blick schnappte zu Finja, die immer noch auf ihrem Sessel saß und das Treiben düster beobachtete. In ihrer Hand ein intaktes Wasserglas. Will ließ letztendlich von ihm ab, nachdem Nico ihm mehrmals so hart er konnte ins Zwerchfell geboxt hatte. Keuchend hockten sie auf dem Boden. Hilflos wütend, wie Kinder.

„Seid ruhig", flüsterte Finja. Sie saß mit den Ellenbogen auf den Knien da. Finja hob den Blick von dem Siegelring, den sie Julian abgenommen hatten. Sie hielt ihn Nico hin, der kam um ihn entgegenzunehmen. Die Hälfte des Wappens darauf war schließlich das seiner Familie. Finja war niemand, der sentimental wurde. Sie war weder gläubig noch optimistisch, aber sie sah ihre Freunde an und befahl:

„Betet gefälligst."

Sie sprachen nicht viel auf dem Rückflug. Finja starrte geradeaus. Sie schien sichtbar in Schock. Das waren sie alle, Nico war keine Ausnahme. Er hatte es von Anfang an für eine schlechte Idee gehalten, aber auf ihn hörte ja niemand.

„Ich habe es Oliver gesagt", flüsterte Finja, während sie in die Höhe jagten.

Nico wagte es nicht mehr, sich ins Cockpit zu setzen, so verstört wie er war. Stattdessen hielt er Julians Hand und sagte ihm in einer endlosen Litanei wie unfassbar dumm es gewesen war, was er getan hatte. Er hörte nur damit auf, um ihnen Eintritt in die Stadt zu verschaffen.

„Hier spricht General Nicholas van Garde", funkte er den südlichen Wachturm der Kuppel an. „Kommend von der fünften Brücke. Erbitte Einlass."

„Roger, General. Einlass gewährt."

Sie tauchten unter der Kuppel durch, ein Manöver, für das man Jahre brauchte, um es zu erlernen. Er war es mit fünfzehn das erste Mal geflogen, aber heute hatte er andere Sorgen.

„Und ich habe René benachrichtigen lassen", sagte Finja.

Nico nahm es zur Kenntnis. Bis die zukünftige Königin ihn zwei Köpfe kürzer machen würde, hatte er noch Zeit. Er musste nur dafür sorgen, dass Julian bis dahin am Leben blieb. Er und ... sie. Nico sah zu dem Geist hinüber, der leichenblass und voller Plasma auf einer der Tragen festgeschnallt war. Sie hatte eine Blutgruppe, die mit Julians kompatibel war. Wahrscheinlich hatte ihr das den Kragen gerettet. Sie hielten Abstand von der Farblosen, alle aus verschiedenen Gründen. Niemand hatte sie ohne Handschuhe angefasst. Ihre Haare waren teilweise abgebrannt. Unter ihnen flog Blau der Wasserspeicher vorbei. Nico, Finja und Will wussten, dass es kein Entkommen mehr gab nach dieser Nacht. Für keinen von ihnen.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt