Er war alleine und Nico tauchte nicht mehr auf, entgegen seiner Versprechen. Julian wartete, dass die Schlinge sich zuzog. Er konnte förmlich spüren, wie sie um seinen Hals lag, wie sein Vater das Ende in der Hand hatte. Nico hatte ihm leise in fünf Sätzen und verschlüsselt genug, dass die Wachposten es nicht überrissen, gesagt, was der König wusste. Was sie getan hatten, um sein Geheimnis zu retten. Dass sie die Schuld unter sich verteilt hatten und erzählt, dass Julian ihnen das Leben gerettet hatte. Wie viel davon sein Vater glaubte, war unklar. Nicht alles. Er bemerkte, als das Schmerzmittel weniger wurde, als sie ihn spüren ließen, was er sich angetan hatte. Auf wessen Befehl, war offensichtlich. Sein Vater wollte, dass er jeden Knochenbruch, jeden Kratzer fühlte, während sein Körper sich wieder zusammenfügte. Es dauerte nicht lange, bis Julian bei vollem Bewusstsein war und vor Schmerz nicht schlafen konnte. Er lag da und wartete auf die Stimme in der Dunkelheit, die Häme und den Zorn. Nichts geschah. Es dauerte Tage, bis er realisierte, dass sein Vater nicht persönlich kommen würde. Kein Kommentar von Seiten des Königs, nicht einmal ein Brief. Es war das Schlimmste, was er hätte tun können. Julian fühlte sich, als ob sein Vater vor ihm stand, die Faust zum Schlag erhoben und jeden Moment könnte ihn ein vernichtender Schlag treffen. Nur, dass der Schlag nicht kam. Julian lag in der Dunkelheit und hoffte inständig, dass seine Freunde alle Pläne zur Schadensbegrenzung umgesetzt hatten. Dass sie sich an die wichtigen Dinge gehalten hatten. Dass sie die Arete Villa beschützten, während er verschwunden war. Dass sie das Mädchen beschützten. Die Erinnerung.
Er konnte nicht mehr tun, als Briefe schreiben und war sich nicht einmal sicher, ob sie ihren Weg hinausfanden. Sämtliche Menschen, die sich um ihn sorgten, fassten ihn grob an und hatten gleichzeitig Angst vor ihm. Sie machten sich nicht die Mühe, den Spiegel gegenüber dem Bett abzuhängen und Julian lachte, als er es sah. Sie hatten die Narbe entfernt, die er sich in Katania geholt hatte. Wenn sie schon einmal dabei waren, seinen Körper neu zu sortieren. Er lehnte sich zurück, starrte mit tintenbefleckten Fingern an die Decke und wünschte sich fort. Nach Katania oder in die Zweige eines Apfelbaums. In zwei Arme, egal wessen.
Der König hatte ihn mit Gardisten und Ärzten weggesperrt auf dem Landsitz der Casanera Familie in den Wäldern. Seinen Freunden war es verboten worden, ihn zu besuchen, aber Renés Briefe fanden immer wieder Wege herein. Er versteckte sie unter dem Kissen, bis er stark genug war, um sich zum Kamin zu schleppen und sie zu verbrennen. Julian würde sich aus eigener Kraft aus diesem Haus schleppen müssen, wenn er gehen wollte. Er war alleine, verbrannte verschlüsselte Briefe und döste so lange er konnte. Als er wieder mit einem Brief vor dem Kamin kniete und dabei versuchte, nicht das Bewusstsein zu verlieren, klopfte es. Hektisch stand er auf, taumelte zurück zum Bett.
Anders als bei Nico, öffnete einer der Gardisten respektvoll die Tür und schloss sie wieder hinter der Frau, die eintrat, ohne mit hereinzukommen. Florence Casanera, die Frau, die ihn geboren hatte, trug eines ihrer Lieblingskleider. Schlicht und blau, wie ihre gesamte Garderobe. Er hatte ihr wie René Diamanten aus Katania mitgebracht, doch sie trug sie nicht. Dafür war seine Mutter zu klug. Dafür kannte sie Alessandrini Männer zu gut. Natürlich hatten die Gardisten sie nicht aufgehalten, schließlich war das hier ihr Haus. Die Bäume vor dem Fenster, das Bett, in dem er schlief, das Feuer im Kamin – es gehörte alles seiner Mutter.
Sie setzte sich wortlos zu ihm ans Bett und zog ihn an sich. Etwas, das sie selbst bei ihrem Wiedersehen nach drei Jahren nicht getan hatte. Er erinnerte sich nicht an ihre letzte Umarmung. Es tat physisch weh, aber die Geste war so ungewöhnlich, dass er es nicht wagte, einen Laut von sich zu geben. Der Adel mochte keine gebrochenen Dinge. Keine kranken Kinder. Doch die Königin scherte sich nicht besonders darum an diesem Tag. Ihr blondes Haar, das sich während seiner Abwesenheit in einen Mix aus Gold und Silber verwandelt hatte, kitzelte seine Wange. Es zitterte bei jedem ihrer Atemzüge.
„Was hast du nur getan?", fragte Florence, während sie ihm vorsichtig durchs Haar strich. „Du hast ihn wütend gemacht."
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Science FictionIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...